Die zerborstene Klinge: Roman (German Edition)
vorliegende Magie, um die richtige Vorgehensweise zu bestimmen. Zeit, eine zweite Meinung einzuholen.
Ich entließ den Willen meines Vertrauten aus meiner Gewalt und tippte auf die Pergamentbögen. »Triss, was hältst du davon?«
Er glitt von meinen Schultern herab auf den Tisch und schrumpfte zu einem Drachenschatten, der von der Nase bis zum Schwanz vielleicht zehn Zoll maß. Als ich mit der Hand zwischen Pergament und Licht hin- und herstrich, breitete er seine Schwingen aus und flog im Gleichklang mit meinen Bewegungen über die Bögen. Dann landete er neben der Botschaft und ließ wieder und wieder die Zunge vorschnellen, bis er jeden einzelnen Zoll gekostet hatte. Schließlich schüttelte er den Kopf.
»Nicht nur, dass ich nicht sagen kann, wie die Worte möglicherweise vor neugierigen Blicken abgeschirmt werden, ich bin nicht einmal sicher, dass es sich hier um einen echten, lesbaren Brief handelt. Entweder der Zauber ist zu ausgefuchst, zu stark oder zu abwesend, um ihn zu entschlüsseln.«
»Das dachte ich auch, und es gefällt mir nicht. Nicht im Mindesten. Das ist eine Magie, die in keinem Verhältnis zur Aufgabe steht und einen erheblich höheren Preis hat als ich. Andererseits, wenn Maylien eine Magierin ist, dann wäre es möglich, dass sie sie selbst erzeugt hat.«
Triss zuckte mit den Schultern. »Möglich, aber unwahrscheinlich. Das ist die Arbeit eines Spezialisten, und ich kann mir keine Adlige vorstellen, die es auf sich nimmt, die notwendigen Studien hinter sich zu bringen. Ich wünschte, ich könnte das Serass oder Malthiss oder einem der anderen älteren Finsterlinge zeigen. Die wüssten vielleicht mehr, und besonders Serass hätte die Herausforderung willkommen geheißen. Aber sie sind alle in die große Schwärze eingegangen, als der Tempel gefallen ist.« Seine Schwingen sackten herab.
Ich strich mit dem Finger von Triss’ Hals bis zum Schwanz über das Rückgrat des Schattens, aber ich hatte keine tröstenden Worte für meinen Vertrauten, wenn ich auch seinen Schmerz um den Verlust so vieler unserer Freunde und Kameraden teilte. Namen huschten durch meinen Geist. Meister Kelos, Devin, Sharl ... inniglich verehrte Lehrer, enge Freunde, Geliebte, alle fort und ihre Schatten mit ihnen. Malthiss, Zass, Liess. Triss und ich waren praktisch die Letzten unserer Art. Mit uns würde eine vierhundertjährige Tradition ihr Ende finden.
Ich schob den Ärger und den Kummer vermutlich etwa das tausendste Mal beiseite, versiegelte den Brief wieder und steckte ihn zusammen mit dem Kupferstreifen in meinen Trickbeutel. Wir hatten einen Auftrag zu erledigen, und die Aussicht auf ein bisschen Remmidemmi bot vielleicht keinen Trost, aber doch ein wenig Ablenkung.
»Triss«, sagte ich.
»Ja.« Er blickte nicht einmal auf.
»Wir sollten uns auf den Weg machen.«
»Du hast recht.«
Er zerfloss zu meinem Schatten, und die Drachengestalt wich einem dunklen Spiegelbild von mir. Aber nur kurz. Einen Moment später glitt er seidig über meinen Körper und ummantelte mich von Kopf bis Fuß mit einer weichen Haut aus purer Dunkelheit. Kaum war er mit dieser Verwandlung fertig, begann er mit der nächsten. Dieses Mal dehnte er sich in alle Richtungen, und während er größer wurde, wurde er zugleich diffuser, wie Sahne, die zu feinem Schaum aufgeschlagen wurde. Als er seine Maximalgröße erreicht hatte, konnte ich ihn als physische Präsenz nicht mehr wahrnehmen.
Die Schwärze, die mich umgab, war vollkommen. Ich konnte nichts und niemanden sehen, und nichts und niemand konnte mich sehen. Selbst für Magiesichtige blieb ich unsichtbar, denn diese Wirkung ging nicht auf einen Zauber zurück, sondern war Teil von Triss’ natürlichen Eigenschaften.
Von draußen betrachtet mussten wir aussehen wie ein wanderndes, dunkles Loch im Blickfeld, eine Lücke, so wie die blinde Stelle, die sich manchmal bei Kopfschmerzen bemerkbar macht. Solange ich mich von hellem Licht fernhielt und von Orten, die aufzusuchen kein Schatten irgendein Recht hatte, konnten wir uns für das normale Auge weitgehend unsichtbar bewegen. Und solange ich keine Magie wirkte, waren wir auch für den Magiesichtigen nicht zu sehen. Das war der Grund, warum Schwertführer so selten von Standardmagie Gebrauch machten. Die magische Glut machte unseren größten Vorteil zunichte.
Es war keine richtige Unsichtbarkeit, aber es war so nahe dran wie nichts anderes und allem, was irgendein Magierorden vollbringen konnte, weit überlegen. Die
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