Die zerborstene Klinge: Roman (German Edition)
Mächte der Vertrauten definierten und formten die Mächte ihrer Meister. Eine minderbegabte Kräuterhexe in Begleitung einer Schlange mochte mit Giften und Tränken eine Menge bewirken können, Dinge, die selbst einem Meistermagier nahezu unmöglich wären, sollte er zufällig an ein Feuerelementarwesen gebunden sein.
Ich stand im Dunkeln, bis Triss seinen Willen erneut dem meinen unterwarf, mir die Kontrolle über unsere gemeinsamen Handlungen überließ und mir gestattete, die Welt mit seinen Sinnen zu erfassen. Zwar hatte ich mein Augenlicht der Dunkelheit geopfert, doch bot Triss mir nun eine Art von Nichtsehen, das vielmehr auf Strukturen und das Wechselspiel zwischen Licht und Dunkelheit ausgerichtet war als auf die Formen und Farben, die so grundlegend für die menschliche Wahrnehmung waren.
Mit Triss’ Sinnen konnte ich das Lichtniveau im Raum beinahe wie eine physische Präsenz spüren, ein schmerzhafter Druck auf der Haut, der sich lichtete, als die Sonne am Horizont versank und Tien der Nacht überließ und all jenen, deren Arbeit Dunkelheit erforderte – den Einbrechern, den Schmugglern, den Nachtwächtern und mir.
Ich öffnete die Klappe über meinem Fenster und glitt hinaus auf den schmalen Sims. Kaum hatte ich die Klappe wieder geschlossen und magisch verriegelt, sprang ich, fing mich am Rand des geneigten Stalldachs ab und zog mich auf den First. Von See wehte ein frischer Frühlingswind herbei und machte mich schaudern, und für einen Moment sehnte ich mich nach einem warmen Getränk in der Taverne unter mir, doch diesen Gedanken verdrängte ich rasch. Bewegung würde mein Blut viel schneller erwärmen als jeder Whiskey und mir noch dazu am nächsten Morgen ein deutlich besseres Gefühl geben.
Als ich breitbeinig auf dem Dachfirst stand, machte ich rasch eine Reihe kurzer Dehnübungen, während ich die Erwartungen, die ich an die Wahrnehmung meiner Umgebung hatte, meinem verhüllten Zustand anpasste. Nun, da die so andere Sichtweise von Triss’ Nichtsehen mein visuelles Bild der Stadt verzerrte, musste ich mich umso mehr auf meine anderen Sinne verlassen können, und ich wollte, dass sie so gut wie möglich arbeiteten.
Die Geräusche auf der Straße unter mir lieferten mir Hinweise auf meine direkte Umgebung. Ein Stiefelscharren mochtevon Pflastersteinen oder verdichteter Erde künden. Die Art, wie es nachhallte und sich ausbreitete, erzählte von schmalen Gassen versus breiteren Straßen oder gar offenen Plätzen. Das plötzliche Flattern von Vogelschwingen konnte mich vor der Ankunft eines anderen Wanderers im Schlotwald warnen – Strohdecker oder Einbrecher beispielsweise. Oder, weitaus gefährlicher, ein Ghul oder eine andere Art ruheloser Toter auf der Jagd. Die hielten sich zwar nur ungern im Freien auf, doch diese mondlose Nacht lieferte ihnen eine gute Gelegenheit, die Straßen heimzusuchen.
Gerüche boten noch einen ausführlicheren Plan der Stadt. Hier, im Herzen der Stolprer, überlagerte der Gestank schlecht gewarteter Abwasserkanäle die meisten anderen Gerüche. Unterwegs würde ich auf würzige Soßen stoßen, dazu ersonnen, den Geschmack überlagerten Fleisches zu übertünchen. Diese wiederum sollten bald den Parfümdüften der besser gestellten Händler weichen, die ihrerseits von den floralen Aromen der kunstvollen Gärten abgelöst wurden, die sich nur die wahrhaft Reichen leisten konnten.
Der Tastsinn war hier oben auf den Dächern nicht so wichtig, konnte aber entscheidend werden, wenn ich später in geschlossene Räume vordringen musste, also achtete ich darauf, mich auch auf die Botschaften einzustimmen, die mir Haut und Knochen schickten. Ich gab genau Acht, wie sich die abgerundeten Keramikschindeln durch die weichen Sohlen meiner Stiefel anfühlten, die Berührung der rauen Wolle des Ponchos, als sie über meine Handrücken streifte, die beißende Kälte der Seebrise auf meinen Wangen und an meinem Hals.
Erst als ich mich ganz und gar in Triss’ umhüllende Finsternis eingenistet hatte, machte ich mich schnellen Schritts auf den Weg durch den städtischen Schlotwald. Tien war alt und wild gewuchert, statt nach einem vorgegebenen Plan zu wachsen. An den meisten Stellen lagen die Dächer so dicht beieinander, dassich auf der Schlotstraße einfacher vorankam als auf den gewundenen und vollgestopften Wegen weiter unten. Selbst die breite Schlucht über der Marktstraße, die das heruntergekommene Gewirr der Stolprer von dem schon viel ordentlicheren Viertel
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