Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
Schwaden durch die Frühlingsbrise zieht. Teenager haben sich auf dem kleinen, gefängnishofartigen Spielplatz versammelt und hören laute Musik. Knutschen miteinander herum. Auf einer Parkbank sitzen zwei dicke alte Frauen, denen das Fett an den Knien über die Stützstrümpfe quillt. Wäsche hängt schlaff an Leinen über den kleinen rostigen Balkonaustritten. Der Geruch von Gebratenem liegt in der Luft. Es ist ein Geruch, bei dem ihm früher das Wasser im Mund zusammengelaufen ist und heute der Magen hochkommt. Mitten am Tag sind so viele Leute unterwegs, dass man meinen könnte, es sei Wochenende. Hat denn hier keiner einen Job? Oder Schule? Sie brauchen Richard und seine Programme und seinen Fortschritt.
Er nickt einem Mann mit goldenem Schneidezahn zu. Die Armmuskeln des Kerls, die aussehen wie aus Ebenholz geschnitzt, prangen unter seinem grob abgeschnittenen Sweatshirt. Mehr Haut als Hemd ist zu sehen, und Richard überlegt: Wenn er so einen Körperbau hätte, würde er ihn auch gern zur Schau tragen. Er sollte wirklich schwerere Gewichte stemmen.
Die Sitzung lief gut, außerordentlich gut. Die Vertreter der örtlichen Schulbehörde waren besonders beeindruckt. Diesen Schwartz sollte der Teufel holen. Wer will eigentlich keine besseren Schulen für seine Kinder?, denkt Richard und erlaubt sich für einen Augenblick in untypisch übertriebener Selbsteinschätzung und Ehrgeiz den Luxus, mit dem Gedanken zu spielen, was er alles auf die Beine stellen könnte, wenn er eines Tages vielleicht das gesamte Schulsystem von New York City übernehmen würde – oder die Universität selbst … Sobald das Unternehmen Manhattanville voll im Schwung ist, werden seinen zukünftigen Arbeitsmöglichkeiten keine Grenzen mehr gesetzt sein. Im öffentlichen oder im privaten Sektor. Jetzt war vielleicht die Zeit gekommen, so richtig Kohle zu machen.
Erst vor zwanzig Minuten hatte Bert ihm die Hand auf die Schulter gelegt und gesagt: »Wenn Sie das auch nur in Ansätzen durchkriegen, wird’s uns allen hier besser gehen. Hauptsache, niemand wird aus seinem Heim vertrieben, mein Sohn.« Er hatte Richard »Sohn« genannt. Bert ist ein ganz schön schlauer Kerl, der zielsicher auf Richards Achillesferse gezielt hatte: die schwelende Sehnsucht nach seinem eigenen toten Vater. Es war ein Vertrauensbeweis und eine Warnung, und Richard schwört, sie zu beherzigen, zumindest solange dies möglich und sinnvoll ist.
Da verspürt er plötzlich einen leichten, pulsierenden Druck an der Schulter, genau an der Stelle, wo Bert ihn etwas kräftiger berührt hatte. Es fühlt sich an wie die massierenden Finger einer Geisha, federleicht strahlt es durch seine Knochen aus, während ihm ein gefährlicher Schauer durch die Synapsen bis in die Zähne rast. Er wirbelt herum – wie leichtsinnig von ihm, als gut gekleideter, weißer Typ mit einem Computer in der Tasche durch die Sozialsiedlungen zu schlendern. Schwachkopf! Ist es der Muskelprotz? Sofort befindet Richard sich im Kampf-oder-Flucht-Modus, das Adrenalin pocht in seinen Adern. Er braucht bloß eine Sekunde, um seine Lage zu peilen, und lacht laut los. Es wird wochenlang das letzte Mal sein, dass er sich selbst lachen hört.
Das Beben, das er da spürt, ist sein BlackBerry, wieder auf Vibrieren eingestellt. Er hatte ihn nach Lizzies Anruf vorhin in die Innentasche seines Sakkos gesteckt, und diese Tasche liegt nun auf seiner Schulter.
Er greift hinein und zieht das Handy heraus. Drückt gleich auf die grüne Taste, ohne nachzusehen, wer der Anrufer ist. »Bin schon unterwegs. In zehn Minuten bin ich zu Hause, Schatz.«
Schweigen in der Leitung.
»Ich will, dass du dich wie ein Arschloch aufführst«, sagt Lizzie.
In all den Jahren, die Richard seine Frau nun schon kennt, hat Lizzie sich noch nie so angehört. Harsch, berechnend, unerbittlich. Als würde sie einem den Krieg erklären. Als würde sie allen und jedem den Krieg erklären, der ihr gemeinsames Kind bedroht hat. Als wäre er, Richard, der General, der diesen Krieg zu führen hat.
Ich will, dass du dich wie ein Arschloch aufführst.
Richard denkt zurück an früher, zurück an all die Jahre, in denen Lizzie nicht wollte, dass er sich wie ein Arschloch benahm. Als sie seine Menschlichkeit anzweifelte, sich Sorgen machte, Leben und Arbeit würden ihn verändern, ihn hart und herzlos werden lassen. Wo war der liebevolle, einfühlsame Visionär, den sie geheiratet hatte?, fragte sie ihn von Zeit zu Zeit mit einem gequälten
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