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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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Lächeln. Um ihn dann sanft wieder auf den rechten Pfad zu schubsen. Es war einer der Gründe, weshalb er sie sich ausgesucht hatte – sie machte einen besseren Menschen aus ihm. Wer wird Richard, wenn ausgerechnet Lizzie ihm die Erlaubnis erteilt, zum Tier zu werden? Wenn sie ihn nicht zügelt, wie weit wird Richard gehen?
    Und nun will Lizzie, dass er sich wie ein Arschloch aufführte.
    Dann wird er ihr geben, was sie will.
    Sie sind im Büro des Anwalts, es ist Mittwoch, ein Uhr nachmittags. Jake wirkt fast drollig in dem viel zu großen blauen Blazer und einer von Richards Krawatten. Die langen, schlaksigen Gliedmaßen hängen ihm merkwürdig am Rumpf, als er sich in den üppigen Ledersessel plumpsen lässt. Die Manschetten an seinem weißen Hemd schlackern ihm wie Armreifen um die Unterarme. Er hat immer noch das blöde Schnürchen ums Handgelenk. Richard nimmt sich vor, es ihm abzuschneiden, wenn sie wieder zu Hause sind.
    Der lange Konferenztisch ist blank poliert. Das Holz glänzt satt und dunkel, so kräftig eingeölt sieht es aus, als würde die Oberfläche sich bei Berührung womöglich kräuseln. Der Junge beugt sich vor und starrt auf sein Spiegelbild im schimmernden Holz. Wenn er den Hals so neigt – wie ein Kranich, der zum Trinken herabstößt –, wirkt sein Kopf größer, schwerer, kugelförmiger und wippender als je zuvor. Jake in dem Sessel da erscheint Richard zu dünn und zu groß und zu klein, alles gleichzeitig. Er passt nicht in seinen eigenen Körper, und sein Körper passt nicht in den Sitz. Er wirkt fast klapprig, als könnten seine Arme und Beine wie bei einem Wetterfähnchen umherwehen. Der Knoten an seiner Krawatte ist verschoben. Es ist Richards Krawatte: dunkelblaue Seide mit dünnem türkisblauem Streifenmuster – für den Anlass vielleicht ein bisschen zu sehr schickimicki, meinte Lizzie, aber es war der jugendlichste Schlips in Richards Kleiderschrank. Ganz gleich, wie oft Richard oder Lizzie ihn heute schon zurechtgerückt haben, er sitzt immer wieder schief.
    Den Knoten hatte Richard selbst gebunden und dabei, als er heute früh hinter seinem Sohn vor dem Badezimmerspiegel stand, eine kurze Vision gehabt – Jake hatte für einen Augenblick wie die Hindugottheit Vishnu ausgesehen, mit dieser Vielzahl von Armen. So hatte Richards eigener Vater es ihm auch beigebracht. Dad hatte sich hinter Richard gestellt, so wie zuvor bei Richards beiden älteren Brüdern, und Richard war überhaupt nicht auf die Idee gekommen, es Jake anders beizubringen. Während er den Knoten zurechtrückte, hatte Richard plötzlich bemerkt, wie unheimlich breit Jakes Schultern geworden waren. Wie ein Drahtkleiderbügel, von dem der Rest seines mageren Körpers einfach herunterhing.
    Da waren Richard ein paar Tränen gekommen, und der Junge hatte es bemerkt. »Tut mir leid, Dad«, sagte Jake, seine Augen geschwollen, ein schlammiges Grün, wie ein nach einem Sommergewitter aufgewühlter Weiher.
    »Sehr schlau war das nicht!«, sagte Richard.
    »Ich hab doch nicht gewusst, ich hab gar nicht gemerkt, ich hatte keine Ahnung, Dad …«, sagte Jake. »Ich hab mir nichts dabei gedacht.«
    »Das ist ja das Problem«, erwiderte Richard. »Du musst aber dein Gehirn einschalten. Du musst immer mitdenken.«
    »Es war ein Fehler, Richard«, sagte Lizzie von der Tür her. Keiner der beiden hatte sie dort stehen sehen. Sie trug ihr »Richards-Einstellungsgespräch-Outfit«, ein schwarzes Armani-Kostüm, das sie noch in Ithaca über eBay erstanden hatte, um den Leiter der Hochschule und den Verwaltungschef zu bezirzen, dazu Strümpfe, flache Absätze und Lippenstift, das wellige Haar straff zurückgekämmt und zu einem Chignon hochgesteckt. »Jake würde nie jemandem absichtlich schaden wollen. Er konnte doch unmöglich wissen, was passieren würde …«
    »Verschick nie eine E-Mail, von der du nicht willst, dass die ganze Welt sie sieht. Wie oft habe ich das schon gesagt?«, sagte Richard.
    »Sie hat es drauf angelegt«, schaltete Lizzie sich ein. »Sie hat das Video aufgenommen, sie hat es als E-Mail verschickt – was würde Dr. Freud wohl dazu sagen!« Sie schüttelte den Kopf. »Das arme, elende, dumme Ding. Marjorie sagt, die Mutter ist ständig auf Achse. Sogar als das Mädchen noch klein war, kam zum Abholen immer ein Kindermädchen.« Ihr Blick kreuzte sich mit dem Richards im Spiegel. »Er muss sich rasieren, Richard.«
    »Das kann er selber«, erwidert Richard. »Er muss sich die Haare schneiden

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