Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
und von Erneuerung zu reden, ihren Schlachtruf nach Veränderung und Chancen und einer neuen Ordnung loszulassen, als er plötzlich bemerkte, wie sein Telefon auf dem Konferenztisch surrte.
Lizzie hatte die Geistesgegenwart besessen, ihm zuerst eine SMS zu schicken. Als Richard mit den anderen gerade über einen seiner eigenen Witze lachte (»Ist es jetzt Zeit, den Donut zu essen, Bert?«), sah er plötzlich das Wort DRINGEND auf dem Display seines Handys. Vorhin beim Hereinkommen hatten sämtliche Sitzungsteilnehmer ihre Telefone auf dem Tisch abgelegt, wie eine Bande Revolverhelden an der Saloontheke ihren Colt. »Legt eure Waffen nieder«, hatte Richard gescherzt, als er sich zu ihnen gesellte. Er hatte nicht den Bruchteil einer Sekunde gezögert, Lizzies Anruf entgegenzunehmen, als das Handy erneut vibrierte. Er war gefasst, unterschwellig aber durchzogen Skandalschlagzeilen seine Gedanken. Wenn Richard darauf angesprochen wird, ob er mehrere Tätigkeiten gleichzeitig ausführen könne, kommt ihm oft zuallererst das Bild in den Sinn, das CNN am 11. September von den in sich zusammenstürzenden Twin Towers gezeigt hatte. Er ist sehr wohl in der Lage, mehrere bruchstückhafte Gedankenstränge auf einmal zu verfolgen.
Lizzie würde ihn nur stören, wenn es gar nicht anders ging. Und Richard Bergamot ist per definitionem einer, der selbst mitten in einer hochkarätigen Sitzung den »dringenden« Anruf seiner Frau entgegennimmt – ein Familienmensch. So steht es in den Artikeln über ihn, und es trifft zu. Grundstudium mit Auszeichnung in Princeton, MBA in Stanford und Promotion in Wirtschaftswissenschaften. Einer, der (schon als junger Kerl) immer ein frisches Hemd dabeihat, in der Aktentasche oder im Umkleideschrank. Mit dem frischen Hemd fing für ihn alles an – nach Schulschluss und in den Sommerferien arbeitete er in einem mexikanischen Schnellrestaurant in San José, wo er Macho Burritos in die Pfanne knallte, und die tadellosen weißen Polohemden unter der Arbeitsuniform beeindruckten den Inhaber der Kette, der seinen eigenen, ziemlich missratenen Sohn auf ein Internat im Osten geschickt hatte. »Die Reichen regieren die Welt – misch dich also zeitig unter sie«, sagte Mr Harrison, steuerte Richard durchs Bewerbungsverfahren an einer Privatschule und verhalf ihm dazu, dass ihm die Studiengebühren erlassen wurden.
St. Paul’s ebnete für Richard den Weg nach Princeton, wo er anfing, sich fürs Finanzwesen zu interessieren und die Kultiviertheit und Lässigkeit all seiner wohlbetuchten Preppie-Kommilitonen ihn verlockten. In Stanford erinnerte er sich seiner Wurzeln und gelobte, inspiriert von seinem Doktorvater, sein Leben dem öffentlichen Dienst zu widmen – dem hoch dotierten öffentlichen Dienst. Er war ein Goldjunge, der zu einem Mann heranwuchs, dem man das Gold zu Füßen legte, einem Familienmenschen. Richard Bergamot liebt seine Familie. Sein ganzer Ehrgeiz, sein ganzes Streben gilt dieser Liebe.
Während er nun also den zitternden Ton in der Stimme seiner Frau hört, in dem sie sich bemüht, ihm etwas zu übermitteln, das nach einem wilden Gewirbel in ihrem Kopf klingt, versucht er nach Kräften, seine Ungeduld zu zügeln. Er wird aus Lizzie nicht recht schlau.
»Fehlt ihm etwas?«, will Richard wissen.
»Nein, nein«, sagte Lizzie. »Aber, Schatz, die verweisen ihn der Schule. Die wollen, dass wir jetzt gleich in die Schule kommen und ihn holen.«
Aufgeregt versucht sie, es ihm zu erklären – irgendetwas mit Jake und einer E-Mail, einem Liebesbrief, der Schule, Verweis, der armen, armen Mutter dieses erbärmlichen kleinen Mädchens … Während sie endlos weiterredet, notiert Richard sich kurze Stichworte auf seinen Schreibblock: Sitzungsleitung an Bert übergeben, PowerPoint-Präsentation an Kate, L. B. in der Autowerkstatt treffen , dazu den überzeugendsten Leitspruch seines Vaters: Lass andere niemals sehen, dass du schwitzt … Das schreibt er tatsächlich hin. Sich ein paar kurze Stichworte zu notieren, beschäftigt ihn und verleiht dem Anruf gegenüber seinen ungehaltenen Zuhörern eine Aura von Bedeutsamkeit. Richard sieht sich im Sitzungsraum um, sieht die höflichen, aber ungeduldigen Gesichter – allesamt vielbeschäftigte, wichtige Leute –, die sich nun von ihm ab- und einander zuwenden, im stilisiert-steifen Bemühen, ihm ein falsches Gefühl von Privatsphäre zu gestatten. Er will die Sitzung erst verlassen, nachdem er sie für sein Vorhaben gewonnen
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