Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
Mädchen wird mich jetzt noch so anfassen, dachte Jake.
»Schau mal, alle deine Freunde halten dir die Stange, Jakey«, sagte Mom. »Die wissen, dass du bloß ein unschuldiges Opfer bist.«
Genau, Mom!, wollte er schreien. Ich bin das unschuldige Opfer, das ein Pornovideo von Daisy Cavanaugh auf dem ganzen gottverdammten Planeten rumgeschickt hat.
Aber er tat es nicht.
Er sagte bloß: »Wow!« Er sagte es ziemlich leise. Innerhalb von einer Woche, innerhalb von zehn Tagen waren er und Daisy sozusagen berühmt geworden – Celebrities . Nun waren sie auf ewig miteinander verbunden, standen sich aber auch auf ewig unversöhnlich gegenüber, genau wie Filmstars, die sich scheiden lassen wollten.
Billy Bob Thornton und Angelina Jolie.
Das war alles überhaupt nicht langweilig.
In der Nacht konnte Jake nicht schlafen. Sein Vater war beim Musikhören auf dem Sofa eingepennt. Nachdem sie Coco schlafen gelegt hatte – »Bloß ein Buch, Coco-Bärchen. Mommy hat Kopfschmerzen« –, war seine Mutter mit ihrem Laptop ins Bett gegangen, wie mit einem verdammten Kuscheltier. Die Tür stand offen, und stundenlang konnte er das Leuchten sehen, bis es verlosch.
Er wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er machte seine Tür zu. Er versuchte, iPod zu hören. Er versuchte, Comics zu lesen, Zeitschriften, ein Buch. Den Großen Gatsby, den er für die Schule noch mal lesen sollte, hatte er fast durch. Der war letztes Jahr in Ithaca Schullektüre gewesen. Seine diesjährige Klasse auf der Wildwood hatte das Buch wahrscheinlich letzte Woche vollends zu Ende diskutiert. Letztes Jahr hatte es ihm gut gefallen, dieses Jahr weniger, und dann war ja der ganze Mist passiert, und es gab eine Protagonistin namens Daisy, und er hatte nicht weitergelesen, weil er sonst fast durchgedreht wäre. Jetzt nahm er das Buch neben seinem Bett zur Hand. Die Stellen, die ihm gefielen, hatte er mit Eselsohren markiert. Ein Zitat hatte ihn an Audrey erinnert, oder jedenfalls an die Gefühle für Audrey, die er sich beim Wiederlesen erhofft hatte. Er betrachtete den Absatz, den er so hervorgehoben hatte, wie es ihm beigebracht worden war. »Immer mit Marker«, hatte seine Englischlehrerin in Ithaca gesagt. Die Anweisung, fand er, hörte sich wie ein Reim an, obwohl es gar keiner war. Ms Katz. Die war ziemlich cool. Letztes Jahr hatte er blassblauen Leuchtstift benutzt. Unter dem leuchtend gelben Geschmier dieses Jahr las er: »Da wusste er: wenn er dieses Mädchen jetzt küssen und seine unaussprechliche Vision mit ihrem vergänglichen Atemhauch vermählen würde, dann würde in seinen Geist für immer Ruhe einziehen, eine göttliche Ruhe. So wartete er, lauschte noch einen Augenblick der himmlischen Stimmgabel, die in der Berührung mit einem Stern zum Klang erwachte. Dann küsste er sie. Unter der Berührung seiner Lippen blühte sie für ihn auf, und seine Vision nahm Gestalt an und wurde vollkommen.«
An den Rand hatte er dünn mit Bleistift geschrieben: chinois .
Wow, dachte Jake, was bin ich für ein Arschloch! Ich verdammter Idiot! Er blätterte bis ans Ende. War doch egal, wenn er jetzt nicht der Reihenfolge nach las! Er war schließlich der Schule verwiesen worden, er konnte zu Hause die Regeln brechen. Er hatte das Scheißding ja schon gelesen. Sein Blick flog über die Seiten, bis er an dem gesuchten Absatz hängen blieb. »Sie waren eben leichtfertige Menschen, Tom und Daisy – sie zerschlugen gedankenlos, was ihnen unter die Finger kam, totes und lebendiges Inventar, und zogen sich dann einfach zurück auf ihren Mammon oder ihre grenzenlose Nonchalance oder was immer das gemeinsame Band sein mochte, das sie so unverbrüchlich zusammenhielt, und überließen es anderen, den Aufwasch zu besorgen.«
Jake legte das Buch aus der Hand. Er stand auf und ging ins Bad, machte die Tür zu und schloss ab. Dann öffnete er das Badezimmerschränkchen. Weihnachten vor einem Jahr hatte sein Vater sich das Schlüsselbein gebrochen. Sie waren bei Dads Verwandten in Kalifornien in Ferien gewesen, und Jakes Cousin Gary hatte sie mit zum Surfen genommen. Jake hatte sich nicht getraut, sein Vater schon. Glatt wie ein Seehund hatte er sich in den extra Neoprenanzug seines Neffen gepackt und stand, nachdem es ihn ein paarmal heruntergehagelt hatte, fest auf dem Brett, bis ihn eine besonders raue Welle heruntersausen ließ, so dass er irgendwie mit dem Schlüsselbein hart auf dem Brett aufprallte. Die starken Schmerztabletten, die ihm der Arzt in der
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