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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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nämlich den falschen Eindruck erweckt hätte, so als wäre er schuld oder was ganz Besonderes. Sie hatten sich beim Frühstück darüber gestritten, und dann hatte sein Vater natürlich gesiegt, weil seine Mutter bei solchen Sachen immer nachgab, weil bei ihr »der Ärger schnell verpuffte« und sein Vater »von Natur aus vernünftig« war, weil sein Vater »strategisch vorging«, während sie »aus dem Bauch heraus Entscheidungen traf«. Als Jake aus dem Haus ging, machte sich sein Vater in Laufshorts gerade fertig, um Coco zur Schule zu bringen. Der »Zwangsurlaub« seines Vaters dauerte also noch an, auch wenn der von Jake vorbei war und er dazu angehalten wurde, »das alles hinter sich zu lassen und wieder zur Normalität überzugehen«.
    »Das ist dein Job«, sagte seine Mutter. Die Zitate stammten alle von ihr. In der Familie führte sie das große Wort.
    Jake zog also ein Basketball- T-Shirt von seiner alten Schule in Ithaca und ein Paar kurze Cargohosen an, schnappte sich seinen Rucksack und zog los, bevor sie ihn wieder umarmen und ihm über sein stoppelkurz geschnittenes Haar streichen konnte. »Bis dann«, rief er, und die Wohnungstür fiel hinter ihm zu, während seine Mutter noch im Badezimmer war. Er wollte nicht mal auf den Lift warten, weil er fürchtete, sie würde in den Flur herausgelaufen kommen, um ihn zu küssen oder so was in der Richtung. Stattdessen nahm er die Treppe.
    Im U-Bahnhof 96th Street standen am anderen Ende des Bahnsteigs ein paar Kids aus der Wildwood, die Jake vom Sehen, aber nicht persönlich kannte. Er hielt sich also abseits und stahl sich ins morgendliche Pendlergewühl in der Bahnsteigmitte, die immer überfüllt und auch viel zu schmal war wegen der Nahverkehrs- und Expresszuggleise auf beiden Seiten. Jake hasste die Station. Es gab keine Wand, an die man sich drücken konnte, während man wartete, und es schien durchaus möglich, dass man wie auf einer Kegelbahn in eins der beiden Gleisbetten gestoßen wurde. Ein ganz schön grusliger Gedanke! Erst als er den Zug bestiegen und sich hingesetzt hatte, sah er, wie die Zwillinge sich in den Wagen schwangen, während die Türen gerade zugingen, wobei der stämmigere James sie mit dem Körper aufstemmte, damit Henry sich an Bord zwängen konnte. Als er mit einem Knall in der Wagenmitte landete, erinnerte sein Auftritt ein bisschen an Kramer in den alten Wiederholungssendungen der Seinfeld-Show. Er hatte einen ziemlich irren Blick, als er taumelnd zum Stehen kam, und aus seiner ausgebeulten Jeans blitzten die Boxershorts hervor. In einer Art Karatehaltung versuchte er, das Gleichgewicht wiederzufinden. Danach gingen die Türen mit einem heftigen Ruck erneut auf, und James stieg ein. James war total im Abercrombie-Outfit – Polohemd mit Elch-Emblem, auf alt getrimmte Jeans, das volle Programm.
    Es gab mehrere leere Plätze, zu beiden Seiten von Jake einen und ein paar ihm gegenüber. Die Reklame für Dr. Zizmor war über den leeren Sitzen auf der anderen Seite angebracht. Henry stand total auf diese Reklame. »Hautstraffung ohne Operation.« »Hautstraffung mit Sekundenkleber«, blödelte Henry immer gern herum und zog sich die Haut an Backen und Schläfen so mit den Handrücken nach hinten, dass er aussah wie in einem Windkanal. Ihm gefielen die gelb-orange-grünen Regenbogen hinter Dr. Zizmors kahlem Eierkopf. Und ganz besonders toll fand er es, mit der Reklame von früher anzugeben, vor Jakes Umzug nach New York. Mit den Proktologen-Anzeigen. »Rufen Sie an: 212 DR-ARSCH.« Henry stand total auf dieses Zeug. »Das hättest du mal sehen sollen, Alter«, sagte Henry dann immer. Jake war klar: Bevor er hergezogen war, war alles besser gewesen.
    Jake wollte Henry auf die Plakate aufmerksam machen, traute sich aber nichts zu sagen. Dr. Zizmor lächelte über Henrys Kopf hinweg steif auf ihn herunter. Dr. Zizmors Augen waren viel zu klein, wie Schlitze, und unter seinen Brauen hing die Haut ihm wie schwere Theatervorhänge über die Lider. Konnte er die nicht straff kriegen, wo er doch so ein Experte war?
    »Whoa«, sagte Henry beim Anblick von Jake. »Ey, Alter, voll geil die Frisur.«
    Jakes Hand fuhr unwillkürlich hoch, um seinen raspelkurzen Haarschnitt zu befühlen. Das mit seinen Haaren hatte er ganz vergessen. Jedes Mal, wenn er in den Spiegel schaute, erkannte er sich gar nicht wieder, aus tausend Gründen, und das war einer davon. Dazu kam die Tatsache, dass ihn die letzten zwei Wochen völlig verändert hatten, es war

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