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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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ihre Wohnung an, in der sie alle drei jeder in seiner eigenen Wut und in Kummer und gegenseitiger Enttäuschung schmorten. Seine Eltern waren den ganzen Tag zu Hause, ärgerten sich, stritten, schoben ihm die Schuld zu – meist schweigend, bloß ab und zu ließ einer von ihnen zwischen zusammengebissenen Zähnen ein bisschen verbalen Dampf ab, was die entsetzlich feucht-klebrige Atmosphäre noch verstärkte. Es war echt widerlich in der Wohnung, jetzt wo er und seine Eltern ständig aufeinanderhockten.
    Die Hölle – das sind die anderen. Es stimmte! Wer immer es gesagt hatte, traf den Nagel genau auf den Kopf. Wenn Jake an den Computer dürfte, könnte er es googeln und herausfinden, wer es gesagt hatte, aber er durfte ja nicht. Er wollte Henry fragen, der es ursprünglich zur Sprache gebracht hatte, durfte ihn aber nicht anrufen. Der Anwalt hatte gesagt: »Bis auf Weiteres sind sämtliche Formen von Kommunikation einzustellen und zu unterlassen. Keine SMS, keine E-Mails, kein Chatten – unterhaltet ihr Kids euch heute eigentlich noch per Telefon, Jacob?« Dies alles hatte der Anwalt mit einem Grinsen gesagt, seine Augen dabei aber wie immer ins Leere gerichtet, an nichts geheftet. »Keine Telefonanrufe, Freundchen«, sagte der Anwalt. »Das gilt auch für deine Mutter.« Jake sah seine Mutter erschaudern, vermutlich weil der Typ sie ebenfalls nicht anschaute. Seine Augen hätten genauso gut aus Marmor sein können, denn sie sahen offenbar nichts. Aber auch, weil – was hatte Mom denn, wenn sie niemandem ordentlich die Hucke volllabern konnte?
    Augen strahlen ja auch meistens etwas aus. Sie verströmen Licht ebenso stark, wie sie es absorbieren. Sie sondern eine leuchtende, eine merkwürdig strahlende Energie ab, nehmen auf und strahlen ab. Bei dem Kerl allerdings nicht.
    Manchmal dachte Jake an Audrey. Manchmal war es schön, an Audrey zu denken, gewöhnlich aber tat es weh. Er kam sich klein vor, fühlte sich wie ein Arschloch – wie ein kläffendes, nervendes Hündchen, dem man einen Fußtritt verpassen möchte –, und in dem Moment wurde er dann furchtbar verlegen und angespannt, bohrte sich die Fäuste in den Magen. Was musste sie von ihm halten? Manchmal stieß er Laute aus, schrie leise auf oder sagte: »Oh Gott«, oder es entfuhr ihm ein unfreiwilliges »Nein, nein, nein«. Dann rief seine Mutter aus dem anderen Zimmer herüber: »Ist alles okay, Süßer?«, woraufhin er sich noch tausendmal mieser fühlte und gedemütigter und beschämter, als er überhaupt für möglich gehalten hätte. Wenn er an Audrey dachte, kam er manchmal auch auf Daisy, und nichts war schlimmer als das. Es gab nichts Schlimmeres auf Erden, als an Daisy zu denken. Er hasste sie regelrecht. Er schrieb mehr oder weniger ihr die Schuld zu. Alles war okay gewesen, bis er ihr über den Weg gelaufen war. Wieso war er bloß auf diese Party gegangen? Wieso hatte er nicht zu Hause Videospiele gespielt wie der Rest der Welt? Oft tat sie ihm auch einfach bloß leid, aber dann hasste er sich selbst dafür. Dahin brachte ihn also die ganze Langeweile: auf gemeine, quälende Gedanken.
    Sein Vater ging wenigstens laufen. In Laufshorts brachte er Coco in den Kindergarten und lief durch den Park wieder nach Hause. An manchen Tagen lief er durch den Park auch wieder hin, um sie abzuholen. Als würde er für einen Marathon oder so was trainieren, und Coco wäre seine Ausrede dafür. An manchen Tagen ging Dad zwischen seinen Läufen nicht mal duschen, was bestimmt ebenfalls zu dem Gestank in der Wohnung beitrug. Jeden Tag kam sein Vater morgens etwas später zurück, nachdem er die Kleine abgeliefert hatte, wurde auf seinen Runden ums Reservoir also entweder immer langsamer – was Jake bezweifelte; sein Vater wurde nie bei etwas schlechter, sondern verbesserte sich immer noch, optimierte seine Zeit –, oder er lief längere Strecken. War ja auch egal. Ist doch alles scheißegal!, dachte Jake. Es war einfach besser, wenn sein Vater nicht zu Hause war. Lass dir ruhig Zeit, Dad!, wollte er rufen, sooft dieser wegging. Wenn er zu Hause war, wenn Dad an seinem BlackBerry oder am Telefon hing – andauernd rief er seinen alten Kumpel aus Princeton an: »Danke, danke, Mann« –, wenn er Zeitung las oder mit geschlossenen Augen auf dem Sofa lag und über Kopfhörer Musik auf seinem CD-Spieler hörte und dabei aussah wie ein Käfer, wenn er auf passive Weise gegenwärtig war und so unerträglich offenkundig nicht im Büro, dann war alles am ätzendsten.

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