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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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dann nach New York gezogen waren, wo es okay war, wenn man adoptiert und Chinesin und jüdisch war, und wo sie in die chinesische Schule gehen konnte. Und Kalligrafie und Fächertanz lernen. Wie Coco. Jake hatte Coco öfter Fächertanz machen sehen, als ihm lieb war, hatte sie Grimassen schneiden sehen, wenn sie sich vor Publikum »zusammennehmen« sollte – »Benimm dich, Coco«, rief ihre Tanzlehrerin Miss Leung ihr dann jedes Mal geduldig zu. Er hatte gesehen, wie sie den blöden kleinen Fächer genommen und, statt den Schmetterling oder sonst was zu spielen, die anderen Tänzerinnen damit in den Hintern gestupst hatte. Warum, oh, warum konnte er nicht so sein wie Coco? Die konnte sich alles erlauben.
    Jake hatte gehört, dass Audrey in einer Wohnung in Riverdale wohnte, nicht in einem Haus. Auf die Wildwood ging sie wahrscheinlich wegen der sozialen Diversität. Ein paar Hippies machten sich nicht schlecht. Die Mittelschicht sollte auch vertreten sein. Wer war eigentlich heute noch Sozialarbeiter? Jemand behauptete, ihre Eltern seien alt, grauhaarig und sähen aus, als wären es ihre Großeltern. Mit Bluejeans und Schlabberpullis. Birkenstocks mit Socken. Den Look kannte Jake aus Ithaca. Das hatte jemand aber bloß behauptet. Genau wusste er es nicht.
    Der Observer und die Post sowie Gawker und die Mütter auf UrbanBaby.com stellten es so dar, als wäre die ganze Sache mit Daisy bloß deswegen passiert, weil an der Wildwood die Schulgebühren so hoch waren, aber dieses Video hätte jeder überall machen können, das sagte sogar sein Vater, und jeder hätte überall die Weiterleiten- und Senden-Taste drücken können, und jeder hätte überall ein genauso total bescheuerter Knallkopf sein können wie Jake. Für eine derartige Dämlichkeit brauchte es keine fünfundzwanzigtausend im Jahr. Dazu brauchte man lediglich einen E-Mail-Account, was nahezu kostenlos war, und einen Computer, der zwar nicht kostenlos, aber leicht zugänglich war, oder nicht? Vielleicht doch? Wohin Jake auch ging, überall gab es Computer: in Internet-Cafés, Büchereien, drei bis vier in jeder Wohnung … Schon möglich, dass arme Kids keinen Zugang zu Computern hatten und deshalb ihr Leben nicht so vermasseln konnten wie »Mister Verwöhntes-Söhnchen«-Jake. Vielleicht sollte sein Vater, wenn er in Harlem seine öffentliche Schule für arme Kids gründete, die zur computerfreien Zone erklären. Vielleicht sollte Jake nach dem College einfach ins Peace Corps eintreten, als Bußübung sozusagen. Oder bei Teach for America sozial benachteiligte Kinder unterrichten. Vielleicht sollte er auch überhaupt nicht aufs College gehen, sondern sich in der Armee als Freiwilliger melden, um zu zeigen, dass er doch kein verwöhnter Fratz war, kein »privilegiertes Kind«. Seine Mutter sagte, es sei ein Privileg, nicht als einzige Hoffnung in die Armee zu müssen, schließlich führe das Land ja einen Krieg! Zwei Kriege. Bloß dass der Krieg im Irak fast vorbei war. »Auftrag ausgeführt« hatte es kurz vor seinem halben Geburtstag in den Schlagzeilen geheißen, also knapp anderthalb Wochen vor Daisys Party. Und jetzt stand Jakes Name in der Zeitung, und es war schon ein bisschen aufregend, ihn in der Post zu sehen, in dem körnigen Foto, quer über der Brust eines dicklichen Knaben. Der Kerl hatte einen Männerbusen, auf dem Foto war sein Kopf aber abgeschnitten. Es musste Zach Bledsoe gewesen sein. Es war aufregend, den eigenen Namen so in der Klatschpresse zu sehen, aber irgendwie auch total frustrierend. An beiden Tagen stand Dad, noch in seinen Laufklamotten, vom Sofa auf, um die Zeitungen zu holen. Na, dann hatten sie wenigstens was zum Rumfummeln.
    »Die machen aus der Göre eine Volksheldin«, sagte Dad mehr zu sich selbst, als er mit der Zeitung in der Hand wieder hereinkam. Irgendwie hatte er aufgehört, mit den beiden anderen zu reden. Er redete vielmehr wie ein Erzähler in einem Theaterstück, als wären Jake und seine Mutter ein unsichtbares Publikum. Es gab jedenfalls keine direkte Anrede mehr, kein sanftes Schulterboxen, keine kameradschaftliche Kopfnuss für Jake, keine Umarmung.
    Du könntest es ja auch einfach online lesen, du Scheißfossil, hätte Jake ihn am liebsten angeschrien, während Dad die Zeitungen auf dem Sofatisch ausbreitete, tat es aber nicht.
    Jakes Mutter trat hinter die beiden, als Dad gerade den Artikel auf der Klatschseite studierte. Sie legte die Hände auf Jakes Schultern und massierte sie ein bisschen.
    Kein

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