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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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Notaufnahme verordnet hatte, waren immer noch in dem Fläschchen und warteten darauf, dass Dad zusammenklappte und eine nahm. Jake nahm sich zwei. Dann schlich er auf Zehenspitzen in die Küche und bediente sich an Moms Wein und dem Wodka, den sie für Gäste dahatten – als ob sie je Gäste hätten, als ob einer von ihnen auch nur noch einen einzigen Freund auf der Welt hätte. Jake wollte einschlafen. Wenn er jetzt nicht schlief, dachte er, würde er ganz von selbst in Flammen aufgehen.
    In der Nacht hatte Jake verrückte Träume. Darin gab es so viele Kapitel, so viele Stürze von U-Bahnsteigen und so viel Auf-der-Stelle-Laufen auf der Schultreppe und Hochklettern an der Außenwand seines Hauses, dass er sich beim Aufwachen buchstäblich um Jahre älter fühlte, so als hätte er sich durch einen jahrelangen Hindernislauf geschlafen. An einer Stelle rannte Daisy über ein Feld und hatte ein weißes Laken wie den Umhang eines Superhelden um die Schultern, während er sie mit Dreckklumpen bewarf, die das Laken trafen und es beschmutzten. Als Jake aber im Traum auf seine Hände hinuntersah, verwandelte sich der Dreck in eine klebrige, lehmige Masse, und als er versuchte, sie abzuwischen, verschmierte er sie blöderweise auf seinen Hosen, geriet in Panik und wälzte sich auf dem Boden und bekam alles auf Haare und Gesicht. Da wachte er kurz auf und dachte: Der Mist ist so plump, ich bin so ein Versager, nicht mal kreative Albträume kann ich haben – und wurde gleich wieder in seine Traumgefilde zurückgerissen. In der nächsten Sequenz war er älter, viel älter, wohnte aber immer noch zu Hause bei seinen Eltern, die schon richtig alt waren, uralt sogar, in einem Teil der Träumerei waren sie sogar tot, und seiner Mutter fiel die Haut von den Fingern, so dass man die Knochen sehen konnte. Und immer weiter spulten sich die endlosen Visionen ab, dauerten die ganze Nacht und den Rest seiner Kindheit. Inzwischen war Coco da, bloß dass sie älter war als er und behauptete: »Ich bin gar nicht deine Schwester«, und Audrey erschien auf der Bildfläche und sagte: »Sie gehört zu mir.« Und dann lief er hinter den beiden her, aber seine lehmbeschmierten Jeans waren steif, und die Mädchen flogen davon und kicherten: »Du stinkst, du stinkst.« Alle diese Alptraum-Variationen waren echt das Letzte, doch Jake konnte daraus nicht aufwachen, obwohl er es versuchte. Die ganze Nacht über riss er sich lange genug aus dem seltsam lähmenden Schlaf los, um sich zu sagen, es ist bloß ein Traum, das hier ist bloß ein Traum, aber das war natürlich genau das, was er sich dieser Tage im Wachzustand auch immer sagte, er hatte also in Wirklichkeit keine Ahnung, was wahr und was Halluzination war. Er hatte, wenn er wach war, die Kontrolle über sein Leben verloren, und nun waren seine Nächte noch schlimmer.
    Am nächsten Morgen stand Jake spät auf. Richtig spät. Wegen der Vicodin-Tabletten! Er stand nach Mittag auf, etwa um eins, und wunderte sich, dass seine Mutter nicht versucht hatte, ihn zu wecken.
    Er taumelte ein wenig beim Aufstehen, schüttelte sich den Schlaf aus dem Kopf und ging ins Wohnzimmer. Seine Mutter saß in Pyjamahose auf dem Sofa, ihr Haar noch zu einem Schlafknoten hochgebunden. Es war nach Mittag, und sie hatte sich noch nicht mal angezogen. Sein Vater saß am Esstisch. Es sah so aus, als hätte seine Mutter geweint.
    »Mom?«, sagte Jake.
    Sie schien überrascht, ihn zu sehen. Ihre Mundwinkel zeigten matt nach oben, als versuche sie zu lächeln. Wie bei einer Schlaganfallpatientin oder so. Jake wurde auf einmal richtig schlecht.
    Dann fing sein Vater an zu telefonieren. Oder vielmehr, sein BlackBerry begann zu summen, und er meldete sich.
    »Ja, Sean.« Er fing an zu nicken.
    »Was?«, fragte Jakes Mutter. Ihre Haut war blass und runzelig. Sie hatte nicht das gemacht, was sie sonst immer machte, damit sie rosa wurde. Jake hatte noch die Shorts an, in denen er geschlafen hatte. Es sah so aus, als wollte sich irgendwie keiner mehr groß die Mühe machen, sich anzuziehen, außer Coco. Die Zähne putzten sie sich aber alle noch.
    Sein Vater wehrte sie ungehalten ab, nickte wieder und wieder. Seine Augen waren geschlossen, die Wimpern gegen die Wangen gepresst. Er hielt den Kopf geneigt, und Jake konnte einen kleinen runden kahlen Fleck in der graumelierten Haarpracht ausmachen. Sein Vater nickte dem BlackBerry zu, als ob O’Halloran ihn sehen könnte. Der hätte ihn aber nicht mal gesehen, wenn er hier mitten im

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