Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
ein bisschen wie plastische Chirurgie für die Seele.
Das auch.
»Henry«, sagte Jake.
»Ey, Alter«, sagte Henry.
Als die U-Bahn losfuhr, surfte Henry durch die Wagenmitte. James setzte sich auf der rechten Seite gegenüber von Jake hin, den Rucksack auf dem Sitz neben sich ausgebreitet.
»Tut mir leid«, sagte Jake. »Ich hatte keine Ahnung. Ich hätte es kapieren sollen, hab ich aber nicht. Ich bin ein Idiot.« Seine Stimme zitterte ein wenig, als er es sagte.
Das hatte er in seinem Zimmer ziemlich lange eingeübt. Und ließ es nun beim Anblick von Henry sofort vom Stapel.
»Du bist echt ein Idiot«, sagte Henry.
Henry sah seinen Bruder an, dann wieder Jake. Und dann wieder James.
James sagte: »Du hast es weitergeleitet. Ihr alle, Henry. Und Luke und McHenry auch, trotz ihrem ganzen blöden Gequatsche. Ich war als Einziger schlau genug und hab nichts gemacht.«
Da zuckte Henry ein wenig zusammen. Nichts hasste er mehr, als wenn man seine Intelligenz beleidigte.
»Gar nichts, außer dir beim Gucken einen runtergeholt«, versetzte Henry.
James zeigte ihm den Stinkefinger.
»Der Pädophile in der Familie bin aber nicht ich«, sagte James.
»Tut mir leid, aber die Räuberin meiner Jungfräulichkeit war zwei geschlagene Jahre älter als wir.«
»Eine, die das Kommando übernommen hat, was, Mann?« James’ Stimme triefte vor Sarkasmus. »Ey, uns ist doch beiden klar, dass die dich nur rangelassen hat, weil sie nicht mit intaktem Hymen aufs College wollte.«
Eine Weile sagte keiner was. Die Knie gebeugt, fuhr Henry die schwankende U-Bahn wie ein Skateboard.
Dann sagte Jake es noch einmal. »Ich mein’s ernst, Henry. Es tut mir total supermäßig leid.« Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich im Zug auf den dreckigen Boden hinzuknien. Er war abartig, er war ein Freak! Auf einmal zitterte seine Stimme so komisch. Oh Gott, dachte er, lass mich jetzt bloß nicht heulen. Bitte, Gott, nicht auch das noch.
Vielleicht bemerkte Henry das Beben in seiner Stimme, denn er wandte sich beim Sprechen von Jake ab. Als könnte er es nicht ertragen, ihm direkt ins Auge zu schauen, starrte er auf sein eigenes Spiegelbild im U-Bahn-Fenster.
»Ey, Mann, ich war froh über die drei freien Tage.«
Oh mein Gott, dachte Jake, ich liebe Henry! Nie im Leben habe ich jemanden mehr geliebt als Henry und werde es auch nie wieder. Nicht meine Frau, nicht meine Kinder, niemanden. Das ist das Höchste an Menschenliebe, was ich schaffe.
Als Jake die Faust ausstreckte, sah Henry sie sofort im U-Bahn-Fenster reflektiert, drehte sich um und stieß seine dagegen. Dann schwang er sich auf den Sitz neben Jake.
»Drei Tage?«, wunderte sich Jake.
»Ja, seit einer Woche geh ich wieder hin.«
Eine Woche mehr als Jake hatte Henry draußen in der Welt sein dürfen. Der Glückspilz!
»Wie ist es denn so? In der Schule, mein ich. Wie wird das wohl, wieder da zu sein?«, fragte Jake. »Für mich?«
Henry überlegte einen Augenblick. Seine Augenbrauen waren wie zwei Zwillingsraupen, die ihm über die Stirn krochen. In der Mitte trafen sie sich und berührten einander.
»Für dich? Na ja, bei uns war’s so: Für die anderen waren wir Arschlöcher oder einfach Vollidioten. Ein paar Mädchen haben uns auf dem Korridor angespuckt, Lesben und Feministinnen eben, aber die meisten sonst kapieren es ja. Nette Mädchen. Schlampen.«
»Daisy ist weltberühmt«, warf James von der anderen Gangseite her ein.
»Weiß ich«, sagte Jake.
»Wir mussten auch alle zu so Versammlungen über Sex und das Internet, und Henry macht ’ne Therapie – meine Mom ist stinksauer deswegen«, fügte James hinzu.
»Sie will Dad breitschlagen, dass er dafür zahlt«, sagte Henry. »Viel Glück.«
Schockartig blitzte Sonnenlicht auf. Die Jungs blinzelten wie frisch geborene Welpen ins Tageslicht, während der Zug dröhnend aus dem Tunnel kam und auf die Hochtrasse fuhr. Inzwischen hatten sie Manhattan fast hinter sich gelassen.
»Du.« Henry deutete mit dem Finger auf Jake. »Du bist entweder ein Märtyrer oder ein Mörder. Ein sexsüchtiger, abartiger Widerling, ein Soziopath oder eben einfach nur ein Opfer. Für manche bist du aber auch eine Art Held. Zach Bledsoe sagt, du verkörperst das harte Los des jungen männlichen Amerikaners. Er findet, du bist der, der am meisten geschädigt ist. ›Ein Paradebeispiel für Doppelmoral‹, sagt er – oder ist es vielleicht umgekehrte Doppelmoral?«
Er musterte James fragend.
»Keine Ahnung«, meinte der. »Ich
Weitere Kostenlose Bücher