Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
stundenlang so eingehend wie ein Lichtbild im Doktorandenseminar analysiert und begutachtet hatte, war Liz zur nächsthöheren Stufe in der weiten Welt der Internet-Pornografie aufgestiegen – zu den Professionellen. Um zwei Uhr in aller Frühe, als sie sich schon richtig Sorgen um sich machte, hatte sie in E-Mail-Form ein Geständnis an Stacey fabriziert – »›Daisy‹ ist eine Einstiegsdroge!« –, dieses aber nicht abgeschickt, denn inzwischen war Liz eine Meisterin der Löschtaste. Was sie im Internet via Google mit solcher Leichtigkeit alles fand, faszinierte und entsetzte sie gleichermaßen. Außerdem war es merkwürdig langweilig. Trotzdem fiel es ihr schwer, sich davon loszureißen. Sie brauchte bloß »Sex« einzugeben, und schon fand sie »bewusstlos gevögelt und Gruppenfick«. Sie fand »Würgen an Opas stinkigem altem Sperma«. Sie fand »Teenager-Masturbation«, darin aber nichts über Daisy. Liz konnte einfach nicht fassen, dass Jake Zugang zu diesem Zeug hatte. Gratis. Legal. Es war beängstigend. Und dann die anderen Sachen, nicht so gratis, nicht so legal, mit Tieren, mit Kindern – es wurde noch viel schlimmer. Dass es Internet-Pornografie gab, war ihr natürlich bewusst, sie hatte sich aber nie die Mühe gemacht, dieses Terrain zu erforschen. Das ist nichts, was Leute miteinander tun, die sich lieben, wollte sie zu Jake sagen – obwohl, vielleicht doch? Und was hatte Liebe damit zu tun, wenn nicht alles? War es denn nicht Liebe, oder jedenfalls die Version einer Dreizehnjährigen von Liebe, was Daisy angestachelt hatte? Nach leidenschaftlichem Verlangen sah es nicht aus.
Liz ging ins Wohnzimmer, wo sie es sich am Vorabend auf dem Sofa bequem gemacht hatte, die Füße auf dem Sofatisch, ihr MacBook warm wie ein Kätzchen auf dem Schoß. Der Sex, auf den sie Jake so gewissenhaft vorbereitet hatte – » safe , mit Kondom, in gegenseitigem Einvernehmen« –, war nicht ganz der Sex, den sie als Teenager gehabt hatte, und hatte offenbar auch nicht viel mit dem Sex zu tun, mit dem sie jetzt konfrontiert war. Sex in einem Bett, im geparkten Auto, im öffentlichen Park im Dunkeln – Sex zwischen zwei leibhaftigen Menschen ohne Zuschauer konnte Liz begreifen. Aber diese Art von Sex, die sie die Nacht über wachgehalten hatte, unablässig, gewaltsam, süchtig machend – das war eine ganz andere Kategorie.
Liz setzte sich aufs Sofa und schob den Laptop auf ihre Oberschenkel. Sie schaute in ihrer Mailbox nach. Der übliche Schrott, nur eine einzige private Verlautbarung von Stacey, die offenbar früh aufgewacht war, um mit dem Mountainbike auf den Mount Tamalpais zu keuchen: »Na, wie hält er sich, mein Patensohn, Mister Hustler junior? Ihr zwei Süßen, ich denk an euch …« Eine Nachricht, die Liz witzig, unsensibel und völlig unbeantwortbar fand.
Sie gab ein: »feigenbaum/blogspot.com«. Die vergangenen zwei Wochen hatten ihr Interesse an ihrem alten Lehrassistenten nur noch gesteigert. Sie musste einfach beschäftigt sein, wenn sie online war, und inzwischen kam es ihr so vor, als wäre sie die meiste Zeit online. Der Eintrag vom Vorabend war um etwa vier Uhr morgens aufgetaucht. Kürzlich hatte Daniel Feigenbaum sich sogar getraut, Teile seines Romans zu posten, jeweils immer ein paar Seiten. Kaum hatte er sie geschrieben, versandte er sie auch schon, so erpicht war er offenbar auf Bestätigung. Der aktuelle Beitrag vervollständigte den ersten Teil des Romans, ohne Prolog: »Ich stelle mein Werk ins Netz in der Hoffnung, mir eine Leserschaft aufzubauen. Ich bin auch sehr interessiert an Anregungen zu Veröffentlichungsmöglichkeiten .«
Einige frühere Beiträge hatten blasse, nichtssagende Reaktionen geerntet. Eine seiner Kolleginnen namens Greta hatte geschrieben: »Du hast so viel Talent. Wieso verschwendest du eigentlich deine Zeit hier bei uns mit dem Schreiben von Werbetexten?«
Seine Schwester schrieb: »Gefällt mir, Danny. Aber ist es nicht irgendwie das gleiche Buch, an dem du schon im Studium gearbeitet hast?«
Jetzt, wo der Teil abgeschlossen war, gab es keine Reaktionen, allerdings hatte er ihn ja erst vor ein paar Stunden gepostet, mitten in der Nacht. Die Arbeit zeigte durchaus Potential, fand Liz, aber Schwesterchen Feigenbaum hatte schon recht. Es war dem, was Liz vor mehr als zwanzig Jahren von ihm gelesen hatte, schrecklich ähnlich, damals, als er ihr Lehrer an der Uni gewesen war. Es zeigte abgegriffenes, vertrautes Potential. Die Rahmenhandlung war dermaßen
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