Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
leicht wiederzuerkennen – es ging ums Erwachsenwerden eines begabten jungen Schriftstellers, der in Philadelphia lebte –, dass sie sie tatsächlich auf Verbindungen zu jener fiesen Geschichte überprüfte, die er vor so langer Zeit in der studentischen Literaturzeitschrift über sie verfasst hatte, über die pfiffige, aber wenig raffinierte »Eliza« mit den kleinen Titten und dem Bronx-Akzent, die »ihre urbane Gewandtheit wie ein Abzeichen trug«. An diese Zeile erinnerte sie sich immer noch – erinnerte sich immer noch, wie sie versucht hatte herauszubekommen, ob dies nun ein charakterliches Manko war oder nicht, und im Moment war sie sich gar nicht so sicher, ob sie überhaupt noch eine Spur von »urbaner Gewandtheit« in sich hatte. Wie auch immer, Feigenbaums Talente hatten Bestand. Er war intelligent, witzig, aber immer noch unreif. Anscheinend hatte er keinen Abstand zu seinen eigenen Zwangslagen entwickelt oder gelernt, wie man eine Erzählstruktur aufbaut. An welchem Punkt verwandelt sich neu entstehendes, aufkeimendes Potential in Stillstand, in Stagnation? An welchem Punkt wird Stagnation gleichbedeutend mit Tragödie? Ist es das, was die Lebensmitte für viele so unerträglich machte? Ist es das, was jeden einzelnen Tag so zermürbend anmuten ließ? Für einen merkwürdigen, brennenden Augenblick verspürte Liz mehr den Wunsch, Daniel Feigenbaum zu retten, als sich selbst zu retten. Das ganze Ding wäre vermutlich viel lesbarer, dachte sie, wenn das Kapitel irgendeine spezielle Pointe hätte.
Sie tippte ein: »Ich heiße Sandra Wishevsky und bin Literaturagentin. Ein Freund hat mir Ihre Arbeit weitergeleitet, weil sie Flair und eine gewisse Fertigkeit zeigt. Werden Sie denn bereits vertreten? Hätten Sie Interesse an meinen kritischen Anmerkungen?« Dann drückte sie die Sendetaste.
Kaum hatte sie es getan, konnte sie es einfach nicht fassen. Sie hielt sich eigentlich nicht für manipulativ oder hinterlistig. Oder war sie es etwa doch? Es war wirklich erbärmlich … aber konnte es vielleicht sein, dass sie sich in diesem besonders abscheulichen Augenblick Daniel Feigenbaum näher fühlte als irgendwem sonst auf der Welt?
Liz schaute auf ihre Uhr. Oh mein Gott, dachte sie, es ist spät. Die Zeit war wie nichts zusammengeschnurrt. Sie hatte sowohl ihr Yoga wie auch das Mittagessen verpasst. Sie war wie in einen wirren Fiebertraum verfallen. Bald musste sie sich auf den Weg durch den Park machen, um Coco abzuholen. Dabei war noch so viel zu erledigen. Sie musste duschen und sich anziehen. Rechnungen waren auch noch keine bezahlt. Sie geriet in Panik: Sie durfte sich nicht verspäten. Bei Coco war Moms Präsenz noch nicht verhandelbar.
Auf dem Bildschirm tauchte ihr Text wie von Zauberhand unauslöschlich in Daniel Feigenbaums Blog auf, dazu gleich neben dem Eintrag die geheime E-Mail-Adresse, die sie beim Einloggen in die Pornoseiten immer verwendet hatte. Ihre Hände zitterten. Was war los mit ihr?
Sie wusste, dass es ein Fehler war, doch sie brauchte eine Stärkung. Nach Feigenbaum und vor dem Abholen. Um Feigenbaum zu vergessen und um sich vor dem Spießrutenlauf beim Kinderkonzert zu wappnen, und obwohl sie es eilig hatte, zündete sie einen Joint an, wurde auch gleich high, blies den Rauch aus dem Badezimmerfenster wie früher zu Teenagerzeiten und, um ehrlich zu sein, auch während der etwas trüberen Phasen ihrer Ehe, in all den langen Nächten, wenn Richard noch länger arbeitete, bei der Weltbank, an der Cornell University, besonders hier in New York, an all den langen Tagen, wenn ihn seine Arbeit gedanklich fast völlig vereinnahmte, wenn sie Witzchen machen oder heulen oder zusammenklappen musste, um ihn auf sich aufmerksam zu machen – und auch jetzt während der letzten drei Wochen jeden Tag. So würde sie den Nachmittag schon irgendwie durchstehen.
Vor dem Schlamassel mit Jake – danach war sie in der Wohnung geblieben – war der Spaziergang quer durch den Park mit Coco im Schlepptau immer der Höhepunkt von Liz’ Nachmittagen gewesen, auch von ihren Vormittagen. Von allem. Ganz egal bei welchem Wetter war es im Park so erholsam gewesen, und zu dieser Jahreszeit hatten die blühenden Bäume – erst Kirschen-, dann Apfelblüte, inzwischen blühte der Hartriegel – ihr das Gefühl gegeben, sie hätte gehungert und würde plötzlich gefüttert. Ganz besonders liebte sie den Blick vom Reservoir aus, wo die Skyline den Park zu umschließen schien – als wären die Gebäude der
Weitere Kostenlose Bücher