Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
versäumt, sie auch nicht zur Schule verabschiedet. Zurzeit bekam sie sich selber irgendwie gar nicht richtig wach. Seit Wochen, seit dem ganzen Durcheinander mit Jake – oder, ehrlich gesagt, vielleicht sogar schon davor? –, war sie irgendwie nicht imstande, ihre Augenlider aufzuzwingen, die Beine über die Bettkante zu schwingen und der Welt gegenüberzutreten. Diese Unfähigkeit, einen Wachzustand herbeizuführen, glich dem Aufwachen aus der Narkose, ein Thema, mit dem Liz sich auskannte: fünf Operationen hatte sie nach der sekundären Unfruchtbarkeit, die Cocos Adoption vorausging, über sich ergehen lassen. Damals war sie, genau wie am heutigen Morgen, eine eingekerkerte Skulptur gewesen, auf der Suche nach Gestalt und Struktur, hatte einem Marmorblock zu entfliehen versucht, war gefangen gewesen in ihrer eigenen Lethargie. Wozu eigentlich überhaupt aufstehen, hatte sie gedacht, bevor sie sich dann ja umorientiert hatten und nach China gefahren waren – wozu, bloß um in ein Meer von hoffnungsloser Hoffnung hinauszuwaten?
Richard hatte sich ein Badetuch um die Taille gewickelt. An den silbrigen Härchen auf Bauch und Brust hingen noch kleine Wassertropfen. Früher, es war noch gar nicht so lange her, war Richard im Badetuch sexy gewesen. Die Kinder in der Schule, die Wohnung ganz für sie beide allein … Doch Liz wusste gar nicht mehr recht, was »sexy« bedeutete, oder ob es auf sie zutraf. Dem allem hatte »Daisy und die Keule« wohl ein Ende gesetzt. Sex als wildes, lustvolles Terrain, in dem man umherschweifen, das man erforschen konnte, war von den Altersgenossen ihres Sohnes fest in Beschlag genommen worden, genau wie sie und ihre Altersgenossen es ihren Eltern gegenüber ja wohl einst gemacht hatten – wenn auch vielleicht eine Spur weniger dramatisch, dachte Liz. Eine Generation von Teenagern nach der anderen hatte diese mysteriöse und vormals »für Erwachsene reservierte« schwimmende Insel geentert, die Besitzerflagge gehisst und die vormaligen Bewohner für überholt erklärt. Jetzt gehörte den Kids das Revier.
»Danke, dass du mich hast ausschlafen lassen«, sagte Liz. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich das zum letzten Mal gemacht habe.«
Richard musterte sie verwundert, sagte aber nichts. Er öffnete das Badezimmerschränkchen und griff nach seinem Deodorant.
»Sind alle gut weggekommen?«, fragte sie. »Jakey?«
Richard nickte.
Liz gähnte erneut. Er fragte nicht weiter nach, was sie über ihren Computer gebeugt eigentlich die ganze Nacht getrieben hatte, und von sich aus erzählte sie es nicht.
Sie stellte ihre Tasse am Waschbeckenrand ab und beugte sich etwas nach vorn, schwenkte zur Lockerung die Hüften. Früher hätte schon so eine schlichte Dehnübung vor dem Yoga Richard womöglich animiert, die Arme um ihre Taille zu legen und seinen Unterleib gegen ihren Hintern zu pressen. Seit Beginn des ganzen Schlamassels mit Jake hatte er aber nicht ein einziges Mal mit seinen obszön langen Wimpern in ihre Richtung gezwinkert. Musste er ja offensichtlich auch nicht. Er holte sich ja zweimal täglich einen runter, indem er durch den Park rannte.
Ach, wen juckte das schon? Wen außer Liz? Es gab Wichtigeres zu tun, größere Probleme hin und her zu schieben und sich daran abzurackern. Wie zum Beispiel die absolut neue und gänzlich fremdartige Leere in Jakes Blick. Und Richards blödsinnige, verzehrende Kämpfe im Job. Von ihrer wackligen Stellung in der Wildwood Community ganz zu schweigen – mittlerweile kam sich Liz, wenn sie Coco nachmittags abholte, wie eine moderne Hester Prynne vor, wie eine Aussätzige. Immer stärker, immer drängender verspürte sie das Verlangen zu fliehen.
Am dringendsten geboten aber war, laut Richard, die Teilnahme an all den Veranstaltungen am Schuljahresende – und es waren so viele. Hauptsächlich von Coco, dem Kind, für das Liz bis nach China gefahren war, um es sich zu greifen und es dann zu vernachlässigen. Coco war noch so klein. So unschuldig. So putzmunter – ein hübscher, treffender Ausdruck – und süß. Allein beim Gedanken an sie stiegen Liz die Tränen in die Augen. Sie hatten sie ziemlich vernachlässigt. In den letzten paar Wochen hatten Liz und Richard nach Kräften versucht, sie abzuschirmen – was allerdings leider bedeutet hatte, dass Coco mehr Zeit vor der Glotze verbrachte als sonst irgendwo. Es war die einfachste Art gewesen, sie aus dem Raum zu lotsen. Dieses Wochenende wollte Liz mit ihr aber ins Museum. Und
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