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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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fühlt Richard, wie die Wut in ihm aufflammt. Er versucht, sie abzublocken. Er wendet sich vertrauensvoll an dich, Richard, sagt er zu sich selbst, mit der Stimme seines Vaters. Enttäusch ihn jetzt nicht.
    »Chemie, das ist doch Carmichael, stimmt’s?«
    »Ja, genau«, sagt Jake. »Mr Carmichael.«
    »Das ist doch der, der dich mag, oder?« Der eine. Der Einzige.
    »Ja, Dad. Glaub ich jedenfalls. Ja«, sagt Jake.
    »Den rufe ich an.«
    »Ich war echt so gestresst, Dad«, sagt Jake.
    »Den rufe ich an.«
    Jake fängt wieder an zu weinen. »Mir geht’s total beschissen, Dad. Ich bin echt das Letzte.«
    »Jetzt reiß dich zusammen, Jake«, gebietet Richard. »Wo bist du?«
    »In der Schule.«
    »Dann machst du jetzt das fertig, was du zu tun hast, und gehst nach Hause«, sagt Richard.
    »Zu Hause ist Mom.«
    »Mom ist mit Coco weg«, sagt Richard. »Geh nach Hause. Ich sag’s deiner Mutter. Geh einfach nach Hause, sobald du kannst.«
    »Ja, Dad«, piepst Jake kläglich.
    »Keine Sorge«, sagt Richard. »Ich kümmer mich drum.«
    Er legt auf. Dann wendet er sich seinem Computer zu, googelt die Schule und fahndet nach Carmichaels Durchwahl. So etwas sollte nicht per E-Mail gemacht werden, findet Richard. Der arme Kerl, er stand ja dermaßen unter Druck. Trotzdem – sie hatten ihm eine Aufgabe gegeben, eine einzige Aufgabe, nämlich die Maßgaben seiner Probezeit einzuhalten, und er hatte es versaut. Richard liegt mit sich selber im Clinch. Sein Sohn ist missraten, ein Opfer, schwach, überempfindlich. Ihm ist, als wäre Lizzie im Raum, und in Gedanken streitet er mit ihr. Immerhin ist Jake zu ihm gekommen. Das hatten sie ihm auch eingeschärft. »Warum bist du denn nicht zu mir gekommen?«, hatte Richard mehrmals wiederholt, nachdem Daisy die verdammte E-Mail geschickt hatte. Und jetzt war Jake gekommen, und Richard muss sein Versprechen halten.
    Er greift über den Schreibtisch nach seinem Telefonapparat, um Carmichael anzurufen. Er wird an sein Mitgefühl appellieren. Vor dem Desaster war Jake in Chemie ein ordentlicher Schüler. Seit Beginn der ganzen Geschichte ist er extremer Anspannung ausgesetzt. Richard wird anbieten, ein Attest von Jakes Therapeuten beizubringen. Er und Liz wären dankbar, wenn Jake eine Nachprüfung machen könnte. Er selbst, Richard, wird den Prüfungsstoff mit Jake durchpauken. Richard formuliert das Gespräch im Geiste, als plötzlich das Telefon klingelt. Seine Finger verharren zögernd über dem Hörer. Ist es Carmichael, der ihn da soeben anruft? Denkt Richard so laut, dass Carmichael seine Gedanken hören kann? Richard greift nach dem Hörer.
    »Hallo.«
    »Richard«, sagt die Stimme.
    »Strauss?«, sagt Richard.
    »Scott Levine. Wie geht’s dir?«
    Ein Kommilitone aus der Business School in Stanford, heute Investmentbanker. Früher hatten sie keinerlei Gemeinsamkeiten gehabt, einander aber stets respektiert. Heute ist Scott ein hohes Tier bei Lehman Brothers. Er wohnt, bereits in zweiter Ehe, in Greenwich Village. Die erste Frau hieß bei Lizzie immer »Mrs Scott«. Die zweite haben sie noch nicht kennengelernt, obwohl sie und Scott schon recht lange verheiratet sind. Kinder gibt es auch, glaubt Richard, mit beiden Frauen. Wie heißt sie noch gleich?
    »Gut, Scott«, sagt Richard. »Schön, von dir zu hören.«
    »Ich habe gehört, was bei euch so los ist«, sagt Scott. »Jen ist immer noch ganz gut auf dem Laufenden mit dem ganzen Privatschulklatsch. Und wenn die Uni einen Rückzieher macht, Richard, könnte das für mich glatt ein Gewinn sein. Wärst du heute nach der Arbeit vielleicht für einen Drink zu haben?«
    In puncto Einladungen ist die hier definitiv nett gemeint. Ehrlich gesagt, würde Richard aber momentan allem und jedem zusagen.
    »Wo und wann?«, fragt er.
    Auf ihrer üblichen Runde Powerwalking durch den Park eilte Liz die schmalen, gewundenen Pflasterwege entlang um üppige grüne Grasflächen herum, dann auf dem staubigen Saumpfad am Upper Reservoir zu der Rampe, die sie in die East Nineties entließ. Am Fuß der Anhöhe erspähte sie etwas, das sie zum Anhalten zwang. Erst dachte sie, es läge vielleicht an dem Joint vorhin, dann stellte sie aber in einer seltsamen, flüchtigen Erleuchtung mit Schaudern fest, dass das, was da vor ihr den Stamm eines Baumes erklomm, tatsächlich ein Waschbär war. Das spitznasige Tier unterbrach sein Klettern und schaute ihr direkt in die Augen . Wir beide sind Geächtete in einem fremden Land , kommunizierte es ihr per

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