Die zerbrochene Krone
Art, mit ihren Launen umzugehen - insbesondere wenn sie einmal Teller und Stiefel warf - erzürnte sie und provozierte die Androhung schrecklicher Konsequenzen. Aber da sie ihn hätte einwickeln können, bis er nicht einmal mehr den kleinen Finger hätte rühren können, berührte Siuan in seiner Nähe niemals Saidar, nicht um schwierige Aufgaben zu erledigen und nicht einmal, wenn er sie übers Knie legte. Diese Tatsache hielt sie vor den meisten verborgen, aber wenn sie zornig war, entschlüpfte ihr einiges. Es schien keine Erklärung zu geben. Siuan war nicht schwach im Geist und auch keine Närrin, sie war weder sanftmütig noch ängstlich, sie war nicht...
»Ihr könntet genausogut schon unterwegs sein, Siuan.« Einige Geheimnisse würden offensichtlich auch heute abend nicht enthüllt werden. »Es ist schon spät, und ich weiß, daß Ihr Euch zu Bett begeben wollt.«
»Ja, Mutter. Danke«, fügte sie hinzu, obwohl Egwene nicht wußte, wofür sie sich bedankte.
Nachdem Siuan gegangen war, rieb sich Egwene erneut die Schläfen. Sie brauchte Bewegung. Das Zelt bot hierfür jedoch keinen Raum. Es war zwar das größte Zelt im Lager, das nur von einer Person bewohnt wurde, aber das bedeutete immer noch weniger als zwei mal zwei Spannen. Und es war mit Bett, Sessel und Stuhl, Waschtisch und Standspiegel und nicht weniger als drei Kisten voller Kleider vollgestellt. Chesa und Sheriam und Romanda und Lelaine und ein Dutzend weitere Sitzende hatten für letztere gesorgt.
Sie kümmerten sich ständig darum. Einige wenige weitere Seidenschals oder Strümpfe als Geschenke, ein weiteres Gewand, das sie zum Empfang eines Königs tragen könnte - und es würde eine vierte Kiste nötig. Vielleicht hofften Sheriam und die Sitzenden, daß all die edlen Gewänder sie für andere Dinge blind machten, und Chesa wollte nur, daß der Amyrlin-Sitz der Stellung angemessen gekleidet war. Diener hielten anscheinend genauso starr an den richtigen Ritualen fest, wie der Saal es seit jeher tat. Bald würde Selame hier sein. Sie war an der Reihe, Egwene beim Auskleiden zu helfen - ein weiteres Ritual. Aber Egwene war noch nicht bereit, zu Bett zu gehen.
Sie ließ die Lampen brennen und eilte aus dem Zelt, bevor Selame eintraf. Es würde ihren Kopf befreien, wenn sie ein wenig spazierenging, und sie vielleicht auch ausreichend ermüden, daß sie fest schlafen konnte. Es wäre ein leichtes, sich in Schlaf zu versetzen - die Traumgänger der Weisen Frauen hatten ihr dies früh beigebracht -, aber Ruhe darin zu finden, war eine andere Sache. Besonders wenn ihr Geist vor Sorgen brodelte, die mit Romanda und Lelaine und Sheriam begannen und mit Rand, Elaida, Moghedien, dem Wetter und endlosem anderen noch nicht endeten.
Sie mied Moghediens Zelt. Wenn sie selbst Fragen stellte, würde einer davongelaufenen Dienerin zuviel Aufmerksamkeit zuteil. Verschwiegenheit war ihre zweite Natur geworden. Das Spiel, das sie spielte, ließ nur wenige Fehler zu, und sorglos zu sein, wenn man wußte, daß es nicht wichtig war, konnte dazu führen, auch sorglos zu sein, wenn es wichtig war. Schlimmer noch, man würde vielleicht feststellen, daß man sich in der Bewertung der Wichtigkeit geirrt hatte. Das Schwache muß vorsichtig kühn sein. Das war wieder ein Satz Siuans. Sie tat wirklich ihr Bestes, sie zu lehren, und sie kannte dieses besondere Spiel sehr genau.
In dem mondbeschatteten Lager hielten sich auch jetzt nicht mehr Menschen draußen auf als zuvor. Nur wenige kauerten müde um niedrige Feuer, erschöpft von ihren abendlichen Aufgaben nach einem anstrengenden Reisetag. Diejenigen, die sie sahen, erhoben sich mühsam, wenn sie vorüberging, um ihr Respekt zu zollen, murmelten: »Möge das Licht Euch bescheinen, Mutter« oder etwas Ähnliches und erbaten gelegentlich ihren Segen, den sie dann mit einem einfachen »Das Licht segne dich, mein Kind« gewährte. Männer und Frauen, die alt genug waren, ihre Großeltern zu sein, ließen sich nach dem erhaltenen Segen mit strahlenden Gesichtern erneut nieder, aber Egwene fragte sich, wie sie wirklich über sie dachten. Alle Aes Sedai präsentierten sich der Außenwelt, einschließlich ihrer eigenen Diener, als geschlossene Front. Aber Siuan war der Meinung, wenn man glaubte, ein Diener wisse zweimal soviel wie er sollte, kenne man nur die halbe Wahrheit.
Als Egwene eine offene Fläche überquerte, flammte der Silberblitz eines sich gerade öffnenden Wegetors in der Dunkelheit auf. Es war jedoch nicht
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