Die zerbrochene Uhr
nun ja, jedenfalls sah Madame Augusta nicht minder komisch aus als Elsbeth. Wenn auch ihr Dekolleté so hochgeschlossen war, daß keine Himbeere den Weg in ihr Mieder finden konnte, hatte sich doch eine besonders dicke auf ihre Witwenhaube verirrt und saß wie ein keckes Krönchen auf einem der unpassend glänzenden Seidenbänder, mit denen Augusta ihre Hauben gar zu gern schmückte.
»So«, rief Elsbeth, die als erste wieder genug Luft zum Reden bekam, zu Betty und den anderen Mädchen gewandt, »nun ist genug gegafft und gelacht. Macht, daß ihr wieder in die Küche kommt oder wo sonst ihr eure Arbeit liegengelassen habt.«
»Genau«, kicherte Augusta, »geht wieder an eure Arbeit. Du lieber Himmel, Elsbeth, die Farbe werde ich nie wieder los. Guten Morgen, Niklas.« Erst jetzt entdeckte sie ihren Großneffen. »War es schön in der Schule?«
So eine Frage konnte nur eine Frau stellen, eine Dame, die nie eine Schule von innen gesehen hatte. Tante Augusta, fand Niklas, war so alt, daß sie wahrscheinlich nicht einmal wie seine Schwester Sophie einen Hauslehrer gehabt hatte. Er nickte grinsend. »In der Rüsche auf deiner Schulter steckt noch eine Himbeere, Tante Augusta. Darf ich sie runternehmen?«
Augusta nickte amüsiert, doch Elsbeth ließ das nicht zu. »Du bleibst, wo du bist. Es reicht, wenn Madame Augusta und ich das rote Mus durch das ganze Haus tragen.«
Eine Minute später hatte sie alle Mädchen – Brooks, Blohm, Benni und die Lehrlinge waren, lästige Hausdieneraufträge vorausahnend, längst verschwunden – mit Anweisungen davongescheucht. Wasser, hatte sie befohlen, viel Wasser, Tücher, Bürsten und Scheuersand. Reine Kleider für Madame Augusta und sie selbst, und Schuhe, natürlich Schuhe. Und einen Korb für die beschmutzten Kleider, einen anderen für die Scherben. Und und und. Niklas war sicher, in einer halben Stunde würde alles wieder seine Ordnung haben. Wenn Elsbeth der Admiralität vorstehen würde, hatte sein Vater kürzlich gesagt, wäre die endlose Debattiererei längst vorbei, die Elbe auch für die großen Segler bis in den Hamburger Hafen passierbar, und man müßte nicht ständig teuer in Altona entladen lassen.
Eine halbe Stunde später leistete Augusta ihrem Großneffen am Küchentisch im Souterrain Gesellschaft bei seinem Frühstück. Nur ein paar Flecken in ihrem Gesicht und auf den Händen verrieten die Himbeer-Attacke. Elsbeth briet knusprige Pfannkuchen (mit Speck!). Die ungeduldigen Bewegungen, mit denen sie die Pfannkuchen in der Pfanne herumschob, und ihr steifer Rücken verrieten, daß sie trotz allen Gelächters immer noch ärgerlich war. Sie habe Madame Augusta doch ausdrücklich erklärt, sagte sie schließlich, ohne sich zum Tisch umzudrehen, daß es gefährlich sei. Es sei einfach zu heiß dort oben mit dem Fenster nach Süden. Im August! Madame Augusta möge doch bitte, bei allem Respekt, die Herstellung der Obstweine und Liköre wieder der Küche überlassen. Wenn die Köchin von Madame van Witten auch noch so schöne Rezepte zu wissen vorgebe, die seien ja lebensgefährlich! Was ihre, Elsbeths, noch nie gewesen seien. Ganz gewiß noch nie. Madame Augusta möge verzeihen, wenn sie ein wenig harsch sei, das geschehe nur aus Sorge um Madame Augustas Gesundheit. Die Glassplitter hätten sie schwer verletzen, ihr gar ein Auge zerschneiden können.
In diesem Moment bekam Elsbeth einen Schluckauf, und Augusta rief nach Betty und befahl, sofort einen starken Mocca zu kochen.
»Du hast natürlich recht, Elsbeth«, sagte sie dann und bemühte sich um eine hübsche Portion Zerknirschung, »du hast mir gesagt, der Ballon dürfe nicht zu heiß werden und auch nicht zu hoch gefüllt sein. Ich habe beides nicht beachtet. Jetzt wünschte ich, ich hätte dich nicht gleich geholt, als ich das seltsame Summen hörte und diesen beunruhigenden Schaum im Hals des Ballons sah. Die herumfliegenden Scherben hätten auch dir ein Auge ausstechen können. Daß das dumme Ding aber auch ausgerechnet in dem Moment explodieren mußte, als wir zur Tür hereinkamen! Wir haben großes Glück gehabt. Kannst du mir meine Einfalt verzeihen?«
Elsbeths Schluckauf war immer noch ziemlich heftig, doch sie nickte großmütig. »Aber könntet Ihr bitte aufhören, Obstliköre anzusetzen?« sagte sie, immer wieder von kleinen Hicksern unterbrochen. »Besonders, wenn im September die Holunderbeeren reif sind. Holunder macht nichts lieber, als zu explodieren. Warum setzt Ihr nicht Pfefferminzlikör
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