Die zerbrochene Uhr
niemals über die Jungen lustig, schon gar nicht vor der ganzen Klasse. Einmal hatte er sogar für einen kleinen Sünder beim Rektor, nun ja, nicht gerade gelogen, aber die Wahrheit doch sehr großzügig ausgelegt, und manchmal, das meinte selbst Böttcher IV, der Stammkunde auf der Eselsbank, machte der Unterricht bei Lehrer Bucher sogar Spaß.
Niklas dachte mit Schrecken an seine Versetzung in die Sekunda im nächsten Jahr (wenn alles gutging). Dann würde er sich auch mit Lehrer Donner herumschlagen müssen. Andererseits glaubte er nicht, daß der es wagen würde, ihn zu behandeln wie Simon. Simon hatte keinen einflußreichen Vater in der Stadt. Wenn er sich über einen der Lehrer beschwerte, den das hochweise Scholarchat für würdig befunden hatte, am Johanneum zu unterrichten, würde man eher nach seinen Fehlern als nach denen des Lehrers suchen. Daß Simon als Pensionist im Hause des Rektors lebte, fiel da kaum ins Gewicht. Lehrer Donner liebte es, seine Schüler mit pfeilspitzem Spott zu züchtigen, das wußten alle. Selbst die anderen Lehrer, so schien es Niklas jedenfalls, mieden ihn. Warum aber ausgerechnet Simon das Lieblingsziel seiner Schikanen war, verstand Niklas überhaupt nicht. Immerhin war der Lehrer der Sekunda Simons Onkel.
Daß Niklas an diesem Morgen viel zu spät zum zweiten Frühstück kam, fiel niemandem im Herrmannsschen Haus am Neuen Wandrahm auf. Sein Vater war schon seit dem frühen Morgen im Rathaus und stritt dort als Mitglied der Commerzdeputation gewiß noch Stunden mit anderen Kaufleuten, Vertretern der Lotsen und den Herren der Admiralität über die dringend notwendige Regulierung der tückisch treibenden Sände in der Elbe, die drohten, den Hamburger Hafen für die Schiffahrt zu blockieren, bevor er – wie fast jeden Tag – zur Börse und anschließend in Jensens Kaffeehaus gehen würde. Niklas’ Bruder Christian hatte sich ebenso früh auf den Weg zum Zollhaus am Hafen gemacht. Auf zwei der englischen Barken, die gestern eingelaufen waren und auch für die Herrmannsschen Speicher Tabak, Kaffee, Edelhölzer, Rohrzucker und andere kostbare Waren von den westindischen und amerikanischen Kolonien brachten, gab es Ärger mit dem Zoll, und die Kapitäne hatten dringend um Unterstützung gebeten. Auch seine Stiefmutter hatte schon früh das Haus verlassen. Anne war mit ihrem Einspänner in den Garten nach Harvestehude hinausgefahren, um mit dem Gärtner eine gemeine Mehltau-Attacke auf ihre Apfelbäume zu bekämpfen. Vielleicht waren es auch die Tomaten oder die Spalierpfirsiche, das hatte Niklas vergessen. Auf jeden Fall war sie nicht da.
Obwohl er auf dem ganzen Heimweg über Simon und seinen Peiniger nachdenken mußte, spürte er kräftigen Hunger. Die Schule begann schon um sieben Uhr, und das erste Frühstück, ein eiliger Becher Milch, eine Schale Hafergrütze und für den Weg ein knuspriges Stück Roggenbrot, schien ihm eine Ewigkeit herzusein. Es machte ihm nichts aus, daß er heute alleine essen mußte. Er würde ja auch nicht tatsächlich alleine sein, sondern sich an den großen Tisch in der Küche im Souterrain setzen, Elsbeth würde ihm einen Pfannkuchen backen, mit Äpfeln oder knusprigem Speck (hoffentlich mit Speck!), sie würde Butter und frisches Brot auf den Tisch stellen, den Schinken aus dem Rauchfang holen und ihn fragen, wie es in der Schule gewesen war. Heute hatte er wirklich etwas zu erzählen. Er konnte sicher sein, daß Elsbeth nicht von der Notwendigkeit des Gehorsams gegenüber Lehrern und anderen Autoritäten predigte, wie es sein Vater von Zeit zu Zeit tat (obwohl ihm die Ernsthaftigkeit dieser Worte niemand recht glaubte), sondern ganz auf der Seite Simons sein würde.
Niklas hatte sofort gemerkt, wie sehr Elsbeth seinen Freund mochte. Vielleicht lag es daran, daß auch sie keine Eltern gehabt hatte. Simon hatte allerdings mehr Glück gehabt. Er war bei Onkel und Tante aufgewachsen, die ihn schließlich an Kindes statt angenommen hatten, weshalb außer Niklas kaum jemand in der Schule wußte, daß er eigentlich eine Waise war. Elsbeth dagegen hatte ihre Kinderjahre im alten verlausten Waisenhaus an den Kajen verbringen müssen, bis sie als Küchenmädchen in das Haus am Neuen Wandrahm kam. Das war viele Jahre her, inzwischen regierte sie nicht nur die Küche, sondern den ganzen Haushalt. Daran hatte auch die zweite Heirat des Hausherrn vor einigen Jahren nichts geändert. Niemand war Elsbeth dankbarer für ihr Regiment als Anne Herrmanns,
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