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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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die so gar nichts mit dem Zählen von Wäschestücken und Silber, mit Menüplänen, Vorratshaltung oder der Beaufsichtigung der dienstbaren Geister des Hauses im Sinn hatte. Anne Herrmanns, gewiß eine mutige, oft auch eigenwillige Dame von der englischen Insel Jersey, fürchtete nur eins wirklich: Elsbeth könne eines Tages das Haus um einer späten Liebe willen verlassen. Einen anderen Grund konnte sich niemand vorstellen.
    Niklas, noch atemlos vom schnellen Lauf, warf seinen Rock auf die Truhe in der Diele, und gerade als er die Stufen zur Küche hinunterspringen wollte – von dort duftete es köstlich nach Vanille und Kaffee –, hörte er einen lauten Knall und gleich darauf einen schrillen Schrei, genauer gesagt zwei Schreie, die aber nahezu wie einer klangen. Dann war es für einen Moment ganz still, totenstill, bis eine weibliche Stimme, offensichtlich gewohnt, jeden Lärm zu übertönen, eine heftige Schimpfkanonade begann. Niklas starrte fasziniert nach oben, von wo der Lärm durchs ganze Haus scholl. Die Galerie, die im ersten Stock um die weite Diele lief, war leer, die Türen, die von dort zu den Wohnräumen und zum Kontor führten, geschlossen. Die Stimme kam eindeutig von weiter oben, und ohne lange zu überlegen, rannte er die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Als er den zweiten Stock erreichte, hörte er hinter sich schon Schritte: Betty, ein oder zwei der anderen Mädchen, Brooks, der Kutscher, und Benni, der Pferdejunge, folgten ihm; auch Fiez und Dübbel, die beiden Handelslehrlinge im Kontor hatten eilig ihre Federn fallen lassen, um dem aufregenden Lärm unter dem Dach zu folgen. Nur das neue Küchenmädchen, eine Waise wie einst Elsbeth, gerade zehn Jahre alt und erst einige Wochen im Haus, blieb wegen ihrer klobigen Holzschuhe zurück, bis sie endlich auf die Idee kam, sie auszuziehen.
    Das Geschrei war wieder verstummt, als Niklas, nun fast vom gesamten Hauspersonal gefolgt, endlich das letzte Stockwerk und die Quelle des Lärms erreichte. Die Tür zu einer kleinen Kammer unter dem Dach stand weit offen, im hellen Licht der Sonne, das die Kammer durch die fest verschlossenen Fenster in einen Backofen verwandelt hatte, standen Elsbeth, die Köchin, und Augusta Kjellerup, die Tante des Hausherrn. Auch wenn ihre Kleider von recht verschiedener Art waren, das eine aus leichtem Kattun, weiß und blau gestreift, das andere aus hellgrauer Seide, an den Ärmeln und am Hals mit Lyoner Spitzen und einer Reihe winziger, schwarz glitzernder Perlen besetzt, waren beide über und über mit der gleichen Farbe bespritzt: Himbeerrot. Die ganze Kammer schien in einen himbeerroten Regen geraten zu sein. Alle starrten auf einen kleinen Tisch am Fenster. Auf dem lag der Rest eines gläsernen Ballons, bedeckt mit Splittern, matschigen roten Früchten und zerfließendem Schaum, rötlicher Saft floß an den Beinen des Tisches herunter, unter dem sich ein klebriger See aus Glassplittern und roter Flüssigkeit ausbreitete. Er war nur klein, der größte Teil dessen, was einmal in dem Ballon gewesen war, klebte am Fenster und an den Wänden des Raumes.
    »Es tut mir leid«, sagte Augusta Kjellerup, »wirklich, Elsbeth, es tut mir sehr leid.« Ihr Mund verzog sich, und Niklas, der seine Großtante als vergnügte alte Dame kannte, fürchtete, sie nun zum erstenmal weinen zu sehen.
    »Wirklich, Elsbeth«, sagte Augusta noch einmal, »es tut mir wirklich …« Sie schluckte, senkte den Kopf, zog sich mit spitzen Fingern eine schon ziemlich matschig gegorene Himbeere aus den silberweißen Locken, und begann zu lachen. Zuerst nur mit leisem Glucksen, doch als sie wieder in Elsbeths himbeerrot bespritztes Gesicht blickte, als sie die Himbeere direkt in der Mitte des Dekolletés der Köchin langsam rutschen und im Mieder verschwinden sah, prustete sie los, ohne sich auch nur damenhaft die Hand vor den Mund zu halten. Sie lachte schallend, und es dauerte keinen Augenblick, bis die ganze Gesellschaft in der backofenheißen Luft unter dem Dach einen solchen Lärm machte, daß selbst das alte Faktotum Blohm seiner Gicht Paroli bot und sich die vielen Stufen bis unter das Dach hinaufbemühte. Auch Elsbeth lachte, vielleicht nicht ganz so laut wie die anderen, weil sie längst an die Mühe dachte, die es kosten würde, die rote Farbe wieder aus den Kleidern zu waschen, aber sie lachte. Auch wenn sich Madame Augusta wirklich eine außerordentliche Caprice erlaubt hatte, war das Unglück doch glimpflich verlaufen, und …

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