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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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zufriedenen Lächeln.
    »Seht ihr?« Jean strahlte. »Ich habe ja gesagt, es ist ein gutes Theater.«
    Die anderen beiden waren weniger erleichtert. Sie kannten Rudolf ihr halbes Leben lang und wußten, für ihn war ein Theater erst ein gutes Theater, wenn es viel daran zu reparieren und zu bauen gab. Rudolf war nicht nur Kulissenmaler, Herrscher über Feuerwerk, Donner-, Hagel- und Windmaschinen und allerlei Flugwerke, sondern auch der Baumeister der Gesellschaft, und selbst wenn jeder sagen würde, das sei der langweiligste Teil seiner Arbeit, so liebte er ihn doch besonders. In einer gut verschlossenen Ecke seiner Seele hegte und pflegte er einen alten Traum: Einmal wollte er ein richtiges Haus bauen. Eines, das nicht nur für ein Gastspiel hielt, sondern für ein ganzes Leben, auch für das Leben seiner Kinder und deren Kinder. Daß er so ein Haus wohl niemals bauen würde – Wanderkomödianten brachten es zu vielen schönen Träumen, aber selten zu dauerhaftem Besitz –, machte seinen Traum nur noch schöner.
    »Und diese Wände«, Gesine, seine dünne Frau, die blasse Haube über blassem Haar, mit ein wenig schmalen Lippen und dunklen Augen, strich mit beiden Händen über eine der rohen Steinmauern, die die Bühne umgaben, »die Wände werden wir hinter schönen Kulissen und Vorhängen verstecken.« Ein Lächeln verwandelte Gesines strenges Gesicht. »Außerdem, Helena, wenn wir auf der Bühne stehen, wenn wir spielen und singen und tanzen, wer wird dann noch auf die Bretter und die Steine sehen?«
    Was eine sehr selbstlose Bemerkung war, denn Gesine spielte stets die kleinen Rollen der grämlichen Alten, der Dienerin und ähnlich undankbare Figuren, die allein niemanden von einer schäbigen Bühne ablenken würden.
    Jean strahlte noch mehr. Er war zwar der Prinzipal, doch ohne Helena ging nichts, und gegen sie schon gar nicht. Das wußte er seit vielen Jahren, aber mit Gesine und Rudolf auf seiner Seite, denen jeder Leichtsinn zutiefst fremd war, hatte er gewonnen.
    »Gut«, sagte Helena und stieg von der Bühne. »Wir haben sowieso keine Wahl. Die Miete ist bezahlt, und ein anderes Theater gibt es nicht. Also fangen wir am besten gleich an.«
    Ganz so eilig hatte Jean es nun auch wieder nicht gehabt, denn es war gerade die richtige Zeit für ein deftiges Frühstück im Bremer Schlüssel. Doch Helena würde unerbittlich sein. Sie war von erschreckender Tatkraft, was seine Versuche, sich wenigstens ab und zu den Anschein vornehmer Nachlässigkeit zu geben, meist vereitelte. Heute hatte er Glück.
    »Bonjour, mon ami Jean«, zwitscherte plötzlich eine helle Tenorstimme. »Le théâtre! Voilà! Formidable! Ist es erlaubt einzutreten?«
    Ohne die erbetene Einladung abzuwarten, stolzierte ein hochgewachsener junger Mann (beim zweiten Hinsehen wirkte er allerdings nicht mehr ganz so jung) durch die weitgeöffnete Theatertür herein. Er legte den Kopf mit dem üppig gewellten weißblonden Haar in den Nacken und sah sich mit strahlendem Lächeln unter dem Dach des Stalles um, als hingen dort die prächtigsten Kristallüster, die je ein Theater beleuchtet hatten.
    »Und das«, fuhr er fort und eilte auf die verblüffte Helena zu, »kann nur die erste Dame dieser Stätte der Kunst sein. Madame«, er griff nach ihrer Hand, drückte sie an seine Lippen, kratzte mit dem Fuß einen eleganten Bogen durch den Staub und sah Helena schmelzend in die Augen. »Madame, es ist mir eine Ehre, eine ganz vorzügliche Ehre.«
    »Das ist sehr schön, Monsieur.« Helena entzog ihm energisch ihre Hand, die er immer noch fest in den seinen hielt. »Ich kann mich jedoch nicht erinnern … «
    »Aber Helena!« Schon stand Jean neben ihr und verbeugte sich kaum minder elegant vor dem Franzosen. »Das ist natürlich Monsieur Curieux, Lazare Curieux. Ich habe doch von ihm erzählt, der Korrespondent für die Pariser Zeitungen.« Es gab absolut keinen Grund zu erwähnen, daß Jean ihn wenige Tage vor der Ankunft seiner Gesellschaft bei einem mehr als kostspieligen Würfelabend im Hinterzimmer des Goldenen Ankers kennengelernt hatte. »Mein lieber Curieux, welche Ehre, daß Ihr uns besucht. Eine bescheidene Hütte, c’est vrai, aber wartet ab, was wir daraus machen werden. Bei der Premiere werdet Ihr dieses Haus nicht wiedererkennen.«
    Ohne sich von Helenas ärgerlich blitzenden Augen auch nur einen Moment aufhalten zu lassen, begann er den Mann im hagebuttenfarbenen Samtrock durch das Theater zu führen, als sei es der Spiegelsaal von

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