Die zerbrochene Uhr
nicht mal was Schönes wünschen? Das Problem mit dir, Herrmanns, ist, daß du …«
Niklas erfuhr an diesem Tag nicht mehr, was das Problem mit ihm war, obwohl es ihn brennend interessierte, auch wenn Böttcher IV nicht gerade der Freund war, den sein Vater für ihn wünschte.
Zum einen, weil just in diesem Moment Lehrer Bucher mit langen Schritten in den Plan einbog und auf das Portal und die Schüler zueilte. Zum anderen und vor allem, weil es nun hinter dem Portal quietschte, irgend jemand drehte den Schlüssel um, und die Tür schwang auf. Sofort verebbte der Lärm zum Gemurmel und erstarb, sofort ordneten sich wie von Geisterhand geführt die wuseligen Haufen der Jungen klassenweise zu ordentlichen Zweierreihen, denn nicht der Pedell, sondern Rektor Johann Samuel Müller persönlich erschien im Portal.
Im allgemeinen war der Rektor ein beredter Mann, egal ob auf deutsch, lateinisch, griechisch oder gar in Englisch oder Französisch; er war auch ein vergnügter Mann, und es kam vor, daß aus seiner Klasse, der Prima, mitten im Unterricht schallendes Gelächter über den Hof klang. An Sonntagnachmittagen, das hatte Simon erzählt, der bei ihm in Pension lebte, setzte er sich häufig an sein Cembalo, spielte heitere Lieder und sang dazu. Erst kürzlich hatte er mit Kantor Bach ein neues eingeübt, in dem es um das Vergnügen am Tobakrauchen ging. Es war ein Wunder, daß sich die Domina des Damenstifts noch nicht beim Scholarchat beschwert hatte. Ihre Wohnung lag zwar nicht in nächster Nähe zu der des Rektors, aber auch wenn er gewöhnlich bei geschlossenen Fenstern und Türen Cembalo und Stimmbänder traktierte, mußten Töne und Gesang noch in ihren Räumen zu hören sein.
Dieser Rektor Müller, nebenbei auch ein großer Theaterliebhaber, stand nun im Portal, schwitzte und blickte unruhig über die Schar der ihm anvertrauten Jungen, als suche er in ihren Gesichtern nach den richtigen Worten.
»Jungen«, rief er schließlich, räusperte sich, breitete die Arme aus wie Marc Anton vor den Bürgern Roms und rief: »Schüler! Heute ist kein Unterricht mehr.«
Falls er gehofft hatte, diese überwältigende Botschaft werde die Schüler umgehend vertreiben und ihm weitere Erklärungen ersparen, wurde er enttäuscht. Selbst das zu erwartende Johlen blieb aus, weil keiner so einfach an diese plötzliche Freiheit glauben mochte.
»Kein Unterricht mehr«, wiederholte er etwas lauter. »Weil, ja, es ist zu heiß. Ihr merkt es«, er strich sich mit einem mühsamen Lächeln über die schweißnasse Stirn, »es ist zu heiß heute. Die Hundstage sind da. Geht nach Hause und …«
Nun endlich brach das dem Anlaß angemessene Johlen aus mehr als zweihundert Jungenkehlen aus, das noch die Konventualinnen nebenan aus dem Mittagsschlaf riß. Die Schlachter im Küterhaus ließen ihre Messer fallen und rannten neugierig auf die Straße, überall am Plan gingen die Fenster auf, und ein staubigbrauner kleiner Hund verschwand schrill kläffend und mit eingezogenem Schwanz hinter einem Holzhaufen neben der Pumpe. Im Handumdrehen war der Platz vor der Schule verlassen. Nur einige der älteren Schüler, zu denen auch einige der Tertia gehörten, blieben lange genug, um auch den letzten Satz des Rektors zu hören, der noch mehr verhieß als nur einen freien Nachmittag.
»Morgen früh werden wir weitersehen. Kommt alle her, pünktlich um sieben. Wie immer. Dann, nun ja, dann werden wir weitersehen. Wie ich schon sagte.«
Lehrer Bucher sprang mit einer entschuldigenden Geste für sein spätes Eintreffen die drei Stufen zum Portal hinauf und glitt am Rektor vorbei in den Schulflur. Dann hörte man ein dumpfes Klapp, gefolgt von metallischem Knirschen, und die Tür war wieder zu und verschlossen.
Böttcher IV schrie noch ein einsames »Hurra«, rempelte Niklas übermütig zur Seite und rief: »Los jetzt, Herrmanns, gib mir schnell deinen Aufsatz.«
Obwohl er ihm diesmal keine Gegenleistung in Aussicht stellte, gab Niklas Böttcher bereitwillig sein Heft. Sein Aufsatz über die sechste Bitte des Vaterunsers »Und führe uns nicht in Versuchung« würde ihn bei der Suche nach Muto sowieso nur stören.
Der Klassenraum der Sekunda wirkte düster, und Rektor Müller, noch von der gleißenden Mittagssonne geblendet, blinzelte ungeduldig. Eben hatte er geschwitzt, nun fröstelte ihn. Eine Fliege suchte summend nach einem Weg aus dem geschlossenen Raum, irgendwo auf den nahen Straßen rumpelte ein Wagen vorbei, und ein Schaf – oder war
Weitere Kostenlose Bücher