Die zerbrochene Uhr
Godard starrte mit zusammengekniffenen Augen auf das Instrument in Wagners Hand, und Emma saß reglos auf ihrem Stuhl, die Hände im Schoß. Von irgendwoher, wahrscheinlich aus dem Untergeschoß, pochte es dumpf, als schlage jemand mit einem Küchenbrett auf einen Kabeljau oder ein zähes Stück Hammelfleisch ein, bis sie mürbe genug für eine dicke Suppe waren.
»Stichel sehen einander alle recht ähnlich«, sagte Godard. »Wenn Ihr ihn mir noch einmal gebt, werde ich das gleich feststellen.«
Wagner rührte sich nicht, er hielt den Stichel fest in der Hand. »Ihr müßtet es doch wissen, wenn Euch einer fehlte. So ein Werkzeug ist nicht irgendein beliebiges Stück Feuerholz. Aber bitte, wenn Ihr wollt.« Er gab ihm den Stichel und fuhr fort: »Am besten seht Ihr gleich auf die winzigen eingeritzten Buchstaben am oberen Ende der Nadel, direkt unter dem Knauf.«
Godard griff nach der Lupe, klemmte sie sich in sein rechtes Auge und seufzte. »Ja«, sagte er, »das sind meine Buchstaben. Und nicht nur das, es gibt ja auch andere, deren Initialen ein P und ein G sind, Paul Gösta, zum Beispiel, der Uhrmacher in der Steinstraße. Ein frommer Lutheraner übrigens. Aber Ihr braucht Euch nicht in die Steinstraße zu bemühen, diese Initialen habe ich gemacht, sie sind mein Zeichen, und es ist auch meine Handschrift. Ja, es ist mein Stichel. Woher habt Ihr ihn?«
Wagner konnte sich nicht vorstellen, daß der Uhrmacher das nicht wußte. Es mochte ja sein, daß er Gasthäusern fernblieb, aber es war nahezu unmöglich, nicht zu wissen, daß der Tote ein nadelähnliches Ding an einem Holzknauf in der Brust gehabt hatte. Die ganze Stadt redete davon.
»Habt Ihr ihn noch nicht vermißt? Euer Werkzeug scheint mir gut gepflegt, und in Euren Kästen und auf den Borden herrscht große Ordnung.«
»Doch, Monsieur Wagner, ich habe ihn vermißt. Schon seit einigen Tagen. Genauer kann ich es leider nicht sagen. Ich habe noch zwei weitere, der Stichel ist natürlich nicht nur ein Stück Feuerholz, aber er ist doch ein einfaches Werkzeug. Zuerst dachte ich, er sei in den falschen Kasten gerutscht, dann dachte ich, Jerôme habe ihn. Schließlich war ich sicher … «
»War?«
»Nun gut, ich bin sicher, daß ich ihn in einem der Häuser liegenließ, deren Uhren ich warte. Ich habe Jerôme geschickt, meinen Gehilfen, um danach zu fragen, aber niemand hatte ihn gefunden. Was auch nicht bemerkenswert ist, denn so ein Stichel kann zu manchem nütze sein, was mit Uhrmacherei nicht das geringste zu tun hat. Jemand wird ihn liegen gesehen und eingesteckt haben, irgendein Knecht oder eine Magd. Vielleicht auch, um ihn für eine kleine Münze auf dem Markt oder vor den Toren zu verkaufen. Das dachte ich, und das denke ich immer noch. Wenn Ihr es noch deutlicher hören wollt: Ich habe nicht meinen Stichel genommen und ihn Monsieur Donner in die Brust gestoßen. Warum hätte ich das tun sollen?«
Das war genau die Frage, nach deren Antwort Wagner suchte. Warum hätte er das tun sollen? Die Wäscherin hatte Donner und Godard durch das Fenster beobachtet und behauptet, die beiden Männer hätten eine Auseinandersetzung gehabt. Dafür hatte Godard eben selbst eine Erklärung genannt. Donner hatte sich geärgert, daß das Uhrwerk auch nach der Reparatur nicht zuverlässig schlug. Eine Auseinandersetzung, vielleicht hatte der Lehrer den Uhrmacher sogar beleidigt. Aber das war ein zu geringer Anlaß für einen Mord.
»Gut, gut.« Wagner wippte mit plötzlicher Unruhe auf den Zehenspitzen. »Gewiß könnt Ihr mir eine Liste Eurer Kunden geben. Ihr werdet verstehen, ich muß Fragen stellen, nun ja, niemand wird ernstlich belästigt werden, aber ich muß doch fragen, ob sich ein solches Werkzeug nicht doch noch irgendwo angefunden hat.«
»Natürlich«, Godard nickte, »Ihr könnt sie gleich mitnehmen. Emma, würdest du bitte die Namen für den Weddemeister notieren? Am besten auch gleich die Tage meiner letzten Besuche.«
»Ach, noch eines«, sagte Wagner und sah zu, wie Emma ein großes, an den Ecken abgewetztes Buch aufschlug, nach Feder und Papier griff und begann, die Liste der Namen und Daten zusammenzustellen, »nur noch eines. Wie sah die Taschenuhr aus, die Ihr für Monsieur Donner repariert habt? Und wie groß war sie?«
»Wie groß? Wartet.« Godard öffnete einen kleinen Karton aus poliertem Ebenholz mit einer silbernen Schließe, schlug ein Seidentuch auseinander und nahm eine Uhr heraus, etwa so groß wie ein Gänseei, nur flacher und
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