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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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Gesandten und gebildeten Reisenden aus aller Welt von unterschiedlichsten Bekenntnissen und Überzeugungen Geschäfte machten und auch zu Tische saßen, war es egal, ob ein Uhrmacher, Strumpfwirker oder Goldschmied Hugenotte war, wenn er nur als der Beste in seinem Metier galt. Tatsächlich waren ja auch einige der reichsten und vornehmsten Familien in der Stadt hugenottischen Ursprungs und immer noch ihrer eigenen Kirche und Tradition verbunden. Man mochte die langsam wachsende Toleranz in Glaubensdingen als Niedergang der Treue zum rechten Glauben oder als einen Triumph der Vernunft bezeichnen – es war, wie es war. Und vielleicht war es deshalb auch gar nicht von Bedeutung, daß Donner seine Uhr ausgerechnet zu Meister Godard gebracht hatte, dessen Werkstatt zudem so nahe beim Johanneum lag.
    »Euer Erfolg macht Euch Ehre, Monsieur Godard. « Wagner kratzte den Rest seiner Würde zusammen und sah dem Uhrmacher gerade ins Gesicht. »Noch eine letzte, wirklich allerletzte Frage.« Er griff in seine Rocktasche, zog ein kleines Päckchen heraus, wickelte das Tuch ab und hielt die seltsame Nadel mit dem Holzknauf hoch, die Dr. Reimarus dem Toten aus der Brust gezogen hatte. »Könnt Ihr mir sagen, was das ist?«
    »Mon Dieu«, murmelte Emma, und Godard nahm Wagner behutsam das Werkzeug aus der Hand. Er hielt es vor dem Fenster ins Sonnenlicht.
    »Das ist ein Stichel. Ein Uhrmacherstichel, ohne Zweifel. Ich würde ihn gerne genauer untersuchen«, fuhr er unwillig fort, als Wagner ihm das Werkzeug wieder aus den Fingern nahm.
    »Das könnt Ihr gleich tun, aber sagt mir erst: Wozu wird so ein Werkzeug benutzt?«
    »Zu verschiedenen Arbeitsgängen. Vor allem aber, um ganz feine Späne abzuheben … «
    „Späne? Was für Späne?«
    »Metallspäne. Eine Stichelspitze ist wie ein winziges Messer, scharf und hart genug, um Metalle zu formen. Die meisten Uhrwerke bekomme ich aus Frankreich oder England. Aber für die Instandhaltung der Uhren, für ihre Wartung oder für Reparaturen, muß ich einzelne Teile selbst anfertigen. Auch sind die neuen Uhrwerke, besonders die preiswerteren, nicht immer akkurat genug gearbeitet. Ob eine Uhr gut läuft, hängt aber von den präzisen Maßen ihrer Teile ab. Da kann eine Unebenheit, eine Ungenauigkeit von der Stärke eines Seidenfadens schon Schaden anrichten. Ganz besonders bei den Taschenuhren.« Er sah Wagners ratloses Gesicht und unterdrückte ein Lächeln. »Ich werde es Euch zeigen«, fuhr er fort, »die Unruh-Welle zum Exempel. Das ist ein Stahlstift, der ein kleines Rad trägt, das den Tisch- oder Taschenuhren ihren Takt vorgibt. So ähnlich wie das Pendel bei der Standuhr.«
    Er setzte sich an seinen Arbeitstisch vor eine kaum handgroße Drehbank, nahm behutsam einen nicht viel mehr als fingernagellangen Stahlstift, der an beiden Enden seltsam abgebogene, ohrenähnliche Fortsätze trug, und spannte ihn in die Haltestäbe der Drehbank. Godards Hände bewegten die winzigen Metallteile ruhig und sicher, aber doch so rasch, daß Wagner nicht genau erkennen konnte, was er tat. Der Uhrmacher hatte noch eine winzige Klammer auf die Welle und ein Rädchen auf einen der Haltestäbe gesteckt, um das Rädchen wand er den Seidenfaden eines kleinen Fidelbogens. Wenn er den nun auf- und abbewegte, drehte es sich und – Wagner erkannte immer noch nicht genau wie – mit ihm die eingespannte Unruh-Welle. Godard nahm einen Stichel aus der Halterung an der Wand, und während er mit der linken Hand den Fidelbogen und damit das Werkstück in der Drehbank bewegte, nahm seine rechte mit dem Stichel winzige, für Wagner unsichtbare Späne von den Enden des sich drehenden Stahlstiftes, den der Uhrmacher als Unruh-Welle bezeichnet hatte.
    »Uhrmacherarbeit«, sagte Godard, ohne den Blick von seiner Arbeit zu heben, »erfordert große Konzentration und viel Geduld. Wenn Ihr lange genug wartet, werdet Ihr sehen, wie sich das Ende der Welle immer mehr verdünnt, bis es genau die richtige Stärke hat.«
    »Aha«, sagte Wagner, sah dem sich flink bewegenden Fidelbogen zu und sagte noch einmal: »Aha. Sehr interessant. Leider erlaubt mir mein Amt nicht, Euch lange zuzusehen. Ja, leider. Wie ich sehe, habt Ihr auch so einen Stichel bei Eurem Werkzeug.«
    »Jeder Uhrmacher hat einen solchen Stichel, gewöhnlich mehrere.« Godard löste seinen Blick von der Drehbank und wandte sich wieder zu Wagner um.
    »Und dieser hier?« fragte der Weddemeister. »Kann es sein, daß er Euch gehört?«
    Die Uhren tickten,

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