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Die zerbrochene Uhr

Titel: Die zerbrochene Uhr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Oelker
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gemacht: sentimental. Wir haben gleich mehrere zu Empfindung. Empfindlich, empfindbar, empfindungsreich – aber keines ist hier wirklich passend. Empfind sam , das ist das richtige Wort. So wie eine Reise, die viel Mühe macht, und welche täte das nicht, eine müh same Reise ist, ist eine Reise, die die Seele bewegt, die also viele Empfindungen auslöst, eine empfind same Reise. Empfindsam, Bode. Und die Leute? Die werden sich an das ungewohnte Wort gewöhnen und bald denken, es sei schon immer dagewesen.«
    »Lessing«, seufzte Bode, ganz gegen seine Vernunft als Verleger schon halb überzeugt, »ist ohne Zweifel ein beachtlicher Dichter, als Geschäftsmann ist er allerdings eine Katastrophe. Nun sagt doch etwas, Monsieur Herrmanns, was haltet Ihr von ›empfindsam‹? Würdet Ihr ein Buch kaufen, dessen Titel Euch schon fremd erscheinen muß?«
    Claes nippte an seinem Kaffee, streckte die Beine unter den Tisch und sagte: »Empfindsam. Das klingt recht hübsch. Ungewöhnlich, aber«, er nippte noch einmal an dem Kaffee, »doch hübsch. Und bedeutungsvoll.«
    Er war nun doch geneigt, Lessing recht zu geben. Für solcherlei Fragen war er nicht geübt genug in der Literatur. Auch hielt er es für müßig, sich lange um ein Wort zu streiten, das letztlich nur dem Zeitvertreib dienen und unter dem jeder etwas anderes verstehen würde, so wie auch jeder etwas anderes unter hübsch oder vortrefflich verstand.
    »Hübsch«, wiederholte er, sah die skeptischen Gesichter und suchte nach etwas Beeindruckenderem. In diesem Moment sah er durchs Fenster den Kantor und Musiklehrer des Johanneums vorbeieilen, und er sagte: »Ein musikalisches Wort, sozusagen.«
    »Da seht Ihr es, Bode.« Lessing schlug triumphierend mit der flachen Hand auf den Tisch und griff mit der anderen nach seinem schwankenden Portweinglas. »Das trifft es genau. Musikalisch. So soll ein Wort sein, das einem Gefühl Ausdruck gibt. Musikalisch.«
    Bode lachte, legte mit einer ergebenen Verbeugung die Hand auf sein Herz und griff nach dem Papierbogen. Er tauchte die Feder in das Tintenfaß, das bei Lessings festem Schlag auf den Tisch ein ganzes Stück zur Seite gehüpft war, machte einen großen energischen Strich durch die lange Liste der Worte und schrieb mit akkuraten Buchstaben EMPFINDSAM darunter.
    »Ihr werdet in die Geschichte der Literatur eingehen, Monsieur«, sagte er immer noch grinsend, »obwohl unserem klugen, so ungemein belesenen Wortkünstler Lessing der Lorbeer gebührt. Aber er ist nun einmal keiner, der sich aufs Lorbeerernten versteht. Und nun«, er warf die Feder auf den Tisch und lehnte sich breit in seinen Stuhl zurück, »nun erzählt uns endlich von den Greueltaten, die sich dieser Tage im Johanneum ereignet haben. Oder glaubt Ihr etwa, ich habe Euch nur der edlen Literatur wegen an unseren Tisch gelotst?«
    Auch wenn Claes nur berichtete, was sowieso schon in der ganzen Stadt bekannt war und in jeder Spelunke, in jedem Kontor und Salon debattiert wurde, jedesmal um greulichere Details angereichert, füllte sich der hintere Raum des Kaffeehauses nun in Windeseile. Trotz der Kargheit des Berichts – immerhin war Claes Herrmanns ein Vertreter des Scholarchats und beinahe ein Augenzeuge, konnte man da nicht ein wenig mehr erwarten? – entbrannte schon einige Minuten später die heftigste Debatte darüber, wer denn den ehrenwerten Lehrer der Sekunda erstochen haben mochte und vor allem, warum.
    Claes saß in der Mitte des Gedränges – selbst Jensen vernachlässigte seine Geschäfte und mischte sich ganz gegen die guten Sitten unter seine Kundschaft – und hörte zu. Zu Beginn voller Staunen über die blühende Phantasie in den Köpfen dieser Männer, von denen er die meisten sonst nur als kühle Rechner kannte, dann mit wachsendem Interesse. Viele hatten wie auch er einst das Johanneum, einige sogar das Akademische Gymnasium besucht. Er konnte sich nicht erinnern, auch nur mit einem von ihnen jemals über die Jahre an der Gelehrtenschule geredet zu haben. Nicht einmal mit seinem alten Freund Bocholt, der sich nun aus den hinteren Reihen zu ihm nach vorne an den Tisch drängte. Sie hatten das Johanneum besucht, das hatte sie manchmal erfreut, oft gequält, irgendwann war die Zeit vorbei gewesen, und das Leben hatte begonnen. Und nun redeten plötzlich alle von ihrer Schulzeit, redeten von Lehrern, an die er sich kaum erinnerte, rezitierten Brocken der alten Texte von Cicero und aus Caesars »De bello Gallico«, mehr oder weniger

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