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Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt

Titel: Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Wirtskörper ablegen konnte. Das Organ glich einem großen schwarzbraunen Blutegel. Wohl wissend, wie verstörend schon dessen Anblick auf ungestreifte Menschen wirkte, reckte er es immer weiter heraus. Es berührte bereits die Lippen des Tempelwächters, tropfte ihm Schleim in den Mund. Noch ein heftiger Stoß, und es würde seine Speiseröhre hinabgleiten. Die Augen des Antischs verdrehten sich nach oben, ein natürlicher Reflex, der ihn wissen ließ, dass er bereit war.
    Unvermittelt hielt er inne. Seine schäumende Wut wich Besonnenheit, der Blick normalisierte sich wieder. War es klug, sich im Zorn zu einer Tat hinreißen zu lassen, von der das Schicksal des ganzen dagonisischen Reichs abhängen konnte? Vielleicht kam er mit Drohungen schneller zum Ziel.
    Natsar zog den Legerüssel zurück und drückte dem Lurch die Kiemen zu. »Mit meinen Geisteskräften als Manipulator kann ich nichts gegen dich ausrichten, doch mein Rüssel vermag uns näher zusammenzubringen, als dir lieb sein dürfte. Wenn ich meine Eier in dir ablege, wird meine Larve sich an dir mästen. Ihr werdet miteinander verschmelzen, und am Ende bist du wie ich. Besser gesagt: Du bist ich.«
    Der Zeridianer erzitterte unter dem Klammergriff. Gut so! , dachte Natsar. Die Kaulquappe fängt endlich an zu begreifen, dass sie mir ausgeliefert ist. »Unser Volk nennt diese Art der Fortpflanzung den Weg der Unsterblichkeit, weil die so entstehenden Nachkommen perfekte Kopien von uns sind. Sie erben von mir und von dir alle Erinnerungen, sämtliches Wissen und jede Fähigkeit. Es hat also keinen Sinn, sich mir zu widersetzen. Mein zweites Ich wird mir genau sagen können, ob du die Wahrheit sprichst. Nur dauert es ein wenig, bis die Brut ausgereift ist. Darin liegt deine Chance.«
    Taramis starrte ihn entsetzt an. Seine Gesichtsfarbe wechselte ins Scharlachrote.
    »Ich wiederhole meine Frage«, sagte Natsar bedrohlich ruhig. »Wählst du deinen Untergang oder die Erhebung? Wirst du dich mit mir verbünden oder verbinden?« Er lachte ob der gelungenen Alliteration.
    Der Lurch öffnete den Mund, bekam aber keinen Laut heraus.
    »Oh!« Natsar verringerte den Druck auf dessen Kiemen.
    »Gebt mir etwas Bedenkzeit«, japste Taramis.
    »Wozu? Schätzt du dein Leben so gering ein?«
    »Als Tempelwächter lebe und sterbe ich für das Recht, General. Mein Tod ist ein billiger Preis dafür. Solltet Ihr mir jetzt, wo ich kaum Herr meiner Sinne bin, ein Zugeständnis abnötigen, werdet Ihr mir niemals trauen können. Anders ist es, wenn ich Euch aus innerer Überzeugung einen Treueid leiste.«
    Der Feldherr nahm die Hand ganz vom Hals des Kriegers. »Du verstehst es, mit Worten ebenso geschickt umzugehen wie mit deinem Stab. Woher weiß ich, dass du nicht nur Zeit gewinnen willst?«
    Taramis schöpfte tief Atem, ehe er antwortete: »Ihr habt mich nachdenklich gestimmt. Die Inschrift unter der Säule des Bundes … Das Gleichgewicht, von dem darin gesprochen wird – es mag ja wirklich durch Dagonis wiederhergestellt werden. Gebt mir bitte Gelegenheit, mich ein wenig zu erholen und in Ruhe darüber nachzudenken.«
    Natsar zögerte. Konnte er dem Lurch trauen? Andererseits, was verlor er schon, wenn er ihm die Galgenfrist einräumte? Er beschloss, es darauf ankommen zu lassen, gab den Tempelwächter frei und rief nach seiner Leibwache. Danach richtete er wieder das Wort an Taramis. »Du bekommst, worum du bittest. Meine Anwesenheit auf Zin ist ohnehin nicht länger vonnöten; sobald wir hier fertig sind, rufe ich meine Ätherschlange und verlasse die Insel. In einem Monat kehre ich zurück, und dann will ich deine Entscheidung hören. Solltest du dich meinem Kommando vorbehaltlos unterstellen, werde ich dich erhöhen – in einem Maße, das deine kühnsten Träume erblassen lässt. Andernfalls wirst du untergehen.«

Die Grube
    D er von zwei Cingulas gezogene Wagen ratterte im Schritttempo auf das Lager zu. Hinter ihm verschwand der Turm von Zin im Dunkel der Nacht. Taramis saß auf der Ladefläche des einachsigen Karrens und blickte zum Himmel empor. Kein Staub trübte den Äther. Um diese Tageszeit pflegte sich der Wind ohnehin abzuschwächen, doch selten hatte er die Gestirne so klar gesehen. In ihrem Licht wirkte sogar die Insel der Verdammten wie ein friedlicher Ort – sofern man die bewaffnete Eskorte zu ignorieren vermochte.
    Eine schwarze Sternschnuppe wischte über das himmlische Gefunkel. Natsars Ätherschlange. Der General hatte sie persönlich herbeigerufen.

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