Die zerbrochene Welt 01 - Die zerbrochene Welt
geschlossen, weil das von ihm anvisierte Ziel im Nebel verborgen lag. Er konnte den Speer nur mit den Augen des Geistes verfolgen und ihn so auf die richtige Bahn lenken.
Malmaths eisblaues Schimmern verfehlte seine Wirkung nicht. Die Echse grub ihre Klauen in den Grund, um nicht blindlings in die Klinge zu rennen. Getragen von Taramis’ Willen durchtrennte unterdessen ein gutes Stück über ihnen die stählerne Speerspitze ein Haltetau.
Unter ohrenbetäubendem Poltern krachte eine Steinlawine den Hang hinab. Die Bestie versuchte noch auszuweichen. Mit einem kraftvollen Satz stieß sie sich vom Boden ab und flog direkt auf Taramis zu. Doch diesmal hatte sie zu spät reagiert. Die Felsbrocken trafen sie mitten im Sprung und begruben sie unter einer zwei Fuß dicken Geröllschicht.
Die Lawine hatte eine Menge Staub aufgewirbelt, der sich mit dem Nebel zu einem undurchsichtigen Schleier verband. Taramis musste husten. Hatte er das Phantom getötet? Während er sich mit stoßbereiter Klinge dem Schutthaufen näherte, hallte die Mahnung von Meister Marnas durch seinen Sinn: Ob in der Schlacht oder bei der Jagd, kehre einem Gegner nie den Rücken, ehe du nicht seine Leiche gesehen hast.
Plötzlich schien das Geröll zu explodieren. Steinbrocken wurden emporgeschleudert und ein feurig heißer Atem traf Taramis im Gesicht. Er wich rasch zurück. Der Geruch verbrannten Haars stieg ihm in die Nase. Polternd rutschten vor ihm Felsbrocken auseinander. Darunter kam die grauschwarze Warzenhaut der Echse zum Vorschein. Der Wolfsdrache schob sein Haupt ins Freie und schoss zwei Flammenspeere auf den Krieger ab.
Taramis duckte sich, fuhr auf der Stelle herum und rannte los. Der Jäger war endgültig zum Gejagten geworden.
Die Bestie erreichte schnell ihr volles Tempo – zu schnell. Taramis drehte sich nicht nach ihr um. Er konnte auch so fühlen, wie sie näher kam.
In weiser Voraussicht hatte er sich für diesen Fall eine Fluchtstrategie zurechtgelegt. Er suchte sein Heil im nassen Element. Dabei vertraute er auf eine körperliche Besonderheit des Nebelvolks, die es von allen anderen Menschenrassen unterschied. Zeridianer waren amphibische Wesen. Als solche verfügten sie über vier Paare von Kiemenschlitzen im Nacken. Diese erlaubten ihnen das Atmen sowohl im Wasser als auch im Äther, dem luftarmen Raum, in dem die Inseln der Welt Berith wie große Blasen im Weltenozean trieben.
Als er nur noch wenige Sätze vom See entfernt war, spürte er den Angriff der Echse. Taramis schlug einen Haken, und ihre Klauen fuhren hinter ihm ins Leere. Mit einem Hechtsprung rettete er sich in die grünen Fluten und tauchte unter wie ein Eisvogel.
Kraftvoll schwamm er dem Seegrund entgegen. Dort konnte er notfalls tagelang ausharren. Nach ein paar Zügen wandte er sich um, und der Schreck fuhr ihm in die Glieder: Die Kreatur hatte nicht aufgegeben, sondern bewegte sich im nassen Element so geschickt wie ein Fisch im Wasser.
Sie hatte sich in einen Antisch verwandelt.
Gulloth!
Der Name des Phantoms, den Taramis nur für ein Hirngespinst gehalten hatte, bekam plötzlich ein Gesicht. Mit seinen großen, vorstehenden Augen, der flachen Nase und den wurmartigen Barteln um die Kinnpartie sah es dem Antlitz eines Feuerfischs zum Verwechseln ähnlich. Deshalb nannte man die Bewohner von Dagonis auch Feuermenschen. Die überraschende Verwandlung der Echse raubte ihm für einen Moment die Fassung. Benommen sank er mit den Füßen voran auf den Grund des Sees, das Schwert abwehrbereit gezückt.
Der Dagonisier – er trug nur einen Lendenschurz – bewegte sich fließend, geradezu anmutig und beängstigend schnell. Von den Schultern abwärts war er ein Mensch, etwa anderthalb Mal so groß wie sein Gegner. Die gewaltigen Muskeln unter seiner geschuppten, braunrot-weiß getigerten Haut zeugten von unbändiger Kraft. Seinen Hals zierte ein Stachelkragen, der zugleich die Kiemenspalten schützte. Gulloths Hände und Füße hatten je sechs Glieder. In der Linken hielt er einen Dreizack, die Zinken deuteten drohend auf Taramis.
Dem fiel es wie Schuppen von den Augen. Sogar die einander widersprechenden Beschreibungen der Überlebenden ergaben plötzlich einen Sinn. Viele Feuermenschen, so erzählte man sich, seien Seelenfresser. Das bedeutete, sie konnten die Gestalt jedes Wesens annehmen, das sie getötet hatten. Selbst deren Erinnerungen und Fähigkeiten saugten sie dabei in sich auf. Gulloth musste zweifellos über dieses Talent verfügen und sich
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