Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
»Die Anbeter Gaos wissen vielleicht nicht, wo wir angreifen werden, doch sie sind in Alarmbereitschaft. Wie wollt Ihr sie überraschen?«
Der König stürzte den restlichen Wein hinunter und verzog das Gesicht zu einem diabolischen Lächeln. »Mit Jâr’ens finsterer Schwester.«
»Ihr meint …?« Bahadur erschauerte. »Haltet Ihr es nicht für gefährlich, die dunkle Wolke bis nach Gan Nephaschôth zu treiben? Niemand weiß genau, wie die Seelenbäume auf den Samen der Dunkelheit reagieren. Sie könnten eingehen. Keiner von uns würde überleben.«
»Seid unbesorgt, Khan. Ich rede nicht von der Wolke, sondern von Xoth.«
»Wer ist das?«
»Eine Wüsteninsel, die kaum jemand kennt, weil sie einsam durch abgelegene Regionen des Weltenozeans zieht. Selbst meine klügsten Köpfe haben nur mit Mühe ihre Bahn ermitteln können. Alle sieben Jahre treiben Xoth und Jâr’en dicht aneinander vorbei. In einigen Tagen ist es erneut so weit. Dann greifen wir die Heilige Insel von ihrer finsteren Schwester aus an.«
Bahadur griff lächelnd in die Dattelschale. Er hatte plötzlich wieder Appetit bekommen.
24. Die wandernde Stadt
E s war ein nebliger Tag auf Samo. Nur wenige Tiere mit besonders feinen Sinnen nahmen den lautlos dahinschwebenden Donnerkeil wahr. Den heimlichen Besuchern kam das gerade recht. Sie hatten zu unterschiedlichste Dinge von diesem Ort gehört, um sich mit großem Trara anzukündigen.
Samo war eine ausgedehnte, flache Insel abseits der wichtigen Handelsrouten, ungefähr auf halbem Wege zwischen der Zentral- und der Äußeren Region. Obwohl größtenteils aus Sumpfland bestehend, gab es nur wenige Mücken hier. Das gemäßigte Klima und regelmäßige Regenfälle begünstigten eher die sanfteren Formen des Lebens. Mit ihrer reichen Flora und Fauna besaßen die riesigen Feuchtgebiete ihren ganz eigenen Reiz. Dazu trugen auch die wechselnden Strömungen in den Sümpfen bei, die das Landschaftsbild ständig veränderten. Bäume, Sumpfinseln, Dörfer und sogar die größte, mit Mauern befestigte Siedlung Samos standen nie still. So war die Legende von Ketira entstanden, der wandernden Stadt, die nur der findet, der Geduld hat, weil sie irgendwann von selbst vorüberkommt.
Wieder einmal war es Siath, die den Gefährten mit ihrem enormen Naturwissen ein besseres Verständnis des Reiseziels vermittelte. Vielerlei essbare Fische gebe es dort, erklärte sie ihnen, prächtige Vögel, ein paar gefräßige Reptilien, Millionen schillernder Insekten und überall wucherndes Grün, darunter die berühmten Sumpfweizenfelder mit ihrem schweren Korn, das auch auf anderen Inseln des Ätherischen Meeres geschätzt wurde. Ein Sprichwort sagte, Gao habe Samo nach dem Großen Weltenbruch in doppeltem Maß gesegnet, damit es feinsinnigen Menschen als Zuflucht diene. Tatsächlich suchten und fanden Künstler und fähige Köpfe aus ganz Berith hier den Frieden und die Inspiration, die ihre Schöpferkraft und ihren Geist beflügelten. Vielleicht sei Marnas deshalb nach so vielen Jahren des Kampfes hierhergegangen, sinnierte die Ganesin.
Es würde zum Meister passen, dachte Taramis. Die Einheimischen – die Samoi – waren Siaths Schilderungen zufolge in mancherlei Hinsicht den Zeridianern ähnlich. Nicht äußerlich – sie verfügten weder über die Kiemen, noch hatten sie den stattlichen Wuchs der Archipelbewohner. Wie diese lebten die Samoi jedoch in Einklang mit der Natur und ernährten sich vom Fischfang, von der Jagd sowie in geringerem Maße vom Ackerbau. Sie verachteten Pomp und Dekadenz und glaubten, dass man ihren Reichtum nicht mit Gold aufwiegen könne. Er speise sich aus den Naturgaben, aus dem Zusammenhalt der Familiengemeinschaft und aus der Freundschaft gegenüber Fremden.
Jagur überließ es seinem Donnerkeil, eine Sumpfinsel zu finden, die sein Gewicht zu tragen vermochte. Aviathan landete unweit eines kleinen Fischerdorfes. Nur einen Steinwurf von der Stelle entfernt dümpelte ein Ruderboot, in dem zwei grauhaarige, bärtige Angler saßen. Dichter Nebel dämpfte alle Geräusche. Die Männer merkten nichts von der Annäherung des Schwallers, bis er zwischen ihnen und einem Röhricht aufs Wasser sank.
Die rüstigen Alten fuhren von ihren Sitzen hoch. Vor Schreck ließen sie die Angeln fallen und starrten offenmäulig das Ungetüm an. Sie sahen wohl zum ersten Mal in ihrem Leben einen Donnerkeil. Taramis und Jagur, die Seite an Seite vor der geöffneten Kiemenkapsel standen, schienen sie nicht
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