Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
denen sich die Gebäude ausrichten konnten. Sollten sie nach einem Plan angeordnet sein, so war dieser für die Besucher unergründlich.
Die meisten Bewohner der wandernden Stadt hießen die Fremden mit einem Lächeln willkommen. Gewöhnlich gingen sie den Riesen scheu aus dem Weg, um sie dann aus sicherer Entfernung zu beobachten. Ablehnend verhielt sich niemand. Vor einer Hütte fragte Taramis zwei spielende Jungen, ob sie sich als Führer einen Goldpim verdienen wollten. Die zart gebauten Knaben hatten glatte, braune Haarschöpfe, grüne Augen und waren ungefähr in Aris Alter. Aufgeregt fragten sie ihre Mutter um Erlaubnis. Weil Gastfreundschaft den Samoi eine heilige Pflicht war, willigte sie gerne ein.
Die Brüder nahmen ihre Aufgabe sehr ernst. Sie halfen den Besuchern nicht nur bei der Orientierung, sondern erläuterten auch so manche Besonderheit ihres Heimatortes.
Der einzige für schwere Wagen befahrbare Weg war mit dicken Holzbohlen ausgelegt. Auf ihm marschierten die Gefährten ins dichter bebaute Stadtzentrum. Gewöhnlich seien die hohen Häuser dort zugleich Wohngebäude und Speicher, erklärten die beiden Jungen. In ihnen türme sich das »Gold von Soma« – das Sumpfweizenkorn – bis unters Dach.
Die größten Bauten drängten sich um den runden Marktplatz, wo gleichsam das Herz von Ketira schlug. Hier konnte man alles kaufen, was die Insel zu bieten hatte, hier versammelten sich die Samoi an Feiertagen und zu Volksversammlungen, hier unterhielten Gaukler und Schauspieler ihr Publikum, hier residierte der Schultheiß in seinem fünf Stockwerke hohen Amtssitz, und hier wohnte Ketiras angesehenster Ehrenbürger: Marnas.
»Bei schönem Wetter findet Ihr den weisen Mann und seinen Diener oft am Brunnen«, sagte einer der Jungen und zeigte hinüber. Der Wagen eines Korbmachers versperrte die Sicht darauf. »Er spricht jeden an, den er noch nicht kennt.«
»Warum tut er das?«, fragte Taramis.
»Weil er von den Samoi lernen will.« Der Kleine deutete auf ein Haus, das so schmal wie ein Ochsenkarren lang war und an Höhe dem Amtssitz des Schultheißen fast gleichkam. »Und dort wohnt er, falls Ihr ihn am Brunnen nicht findet.«
Taramis drückte den Knaben je einen Pim in die Hand. »Danke. Für euren Fleiß und eure Gastfreundschaft sollt ihr den doppelten Lohn bekommen.« Nachdem er ihnen die Haare zerwühlt hatte, rannten sie übermütig davon.
Inzwischen hatte die Sonne den Nebel weitgehend vertrieben, und ein angenehm frischer Wind wehte über den Platz. Die verbesserten Sichtverhältnisse sorgten dafür, dass die Ankunft der Fremden nicht unbemerkt blieb. Die Menschen tuschelten miteinander, und manche zeigten mit den Fingern auf sie. Besondere Aufmerksamkeit schenkten sie dem faltigen Mann, der noch kleiner war als die meisten Einheimischen.
»Warum starren die mich alle so an?«, knurrte Jagur.
»Wahrscheinlich wollen sie deinen Teppich kaufen«, witzelte Pyron.
»Würdet Ihr mich kurz entschuldigen?«, bat Taramis seine Freunde, um mit Marnas bei ihrem Wiedersehen allein zu sein.
»Usa und ich können uns derweil ja nach etwas Essbarem umsehen«, sagte Adomai.
Selvya nickte Taramis aufmunternd zu. »Nehmt euch so viel Zeit, wie ihr zwei braucht.«
»Ja«, brummte der Kirrie. »Ich kann ja inzwischen mit meiner Axt ein paar Kunststückchen aufführen.«
»Solange du damit niemanden verletzt«, kicherte Pyron.
Taramis ließ die Gefährten am Rand des Marktplatzes zurück und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Wer ihn kommen sah, wich ihm respektvoll aus. Manche erschraken, wenn er unerwartet hinter ihnen auftauchte. Als er den Stand mit den Korbwaren umrundete, fiel sein Blick auf einen Mann in einer schlichten Tunika aus grober grauer Wolle, der unübersehbar kein Einheimischer war. Schon die offen zur Schau getragenen Kiemenspalten in seinem Nacken ließen dies erkennen. Er saß mit dem Rücken zu Taramis auf der Umfriedung des Brunnens und unterhielt sich angeregt mit einer Gruppe von Marktbesuchern.
Äußerlich hatte sich der ehemalige Hüter von Jâr’en kaum verändert. Das zu Zöpfen geflochtene, einst schwarze Haar war lediglich etwas grauer geworden. Ansonsten wirkte Marnas, obwohl er die sechzig inzwischen überschritten hatte, so dynamisch wie eh und je. Jede seiner Bewegungen zeugte von sparsamer Effizienz, so als wolle er die Kraft in seinem sehnigen Körper nicht vergeuden. Mit seinen sechs Fuß überragte er die meisten der kleinwüchsigen Samoi um mehr als
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