Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
verhaftet waren, hielten manche die geheimnisvolle Schönheit vermutlich für eine übernatürliche Erscheinung.
Das ehrfürchtige Staunen endete jäh. Einer der Männer rief Shúria etwas zu, das ziemlich bedrohlich klang. Weil sie es nicht verstand, lief sie einfach weiter. Hierauf begannen alle durcheinanderzuschreien. Die Drachenmänner zogen ihre Rundschwerter und brachten ihre Kurzbogen in Anschlag.
»Ich komme in Frieden, um euren Khan zu sprechen«, sagte Shúria laut, ohne ihren Schritt zu verlangsamen.
Niemand schien sie zu verstehen. Der Gleichmut, mit dem sie auf das Durcheinander reagierte, verunsicherte die Männer nur noch mehr. Ein kleiner hagerer Schütze schrie besonders schrill, während er mit gespanntem Bogen auf Shúria zielte. Sie fürchtete, seine Nerven könnten vollends versagen, und deutete in einer gebieterischen Geste mit ausgestrecktem Arm auf ihn.
In diesem Moment schoss hinter ihr ein Pfeil hervor, so als käme er geradewegs aus ihrem Finger. Er traf den hysterischen Krieger in die Schulter. Die Wucht des Aufpralls schleuderte ihn herum, und er fiel brüllend zu Boden.
Lauris! , rief Shúria im Geiste. Vor Überraschung verharrte sie auf der Stelle. Verschwinde endlich, ehe die Drachenleute dich entdecken.
Entschuldige, antwortete er, aber ich sehe nicht tatenlos zu, wie meine kleine Schwester ermordet wird.
Ein großer Kesalonier trat mit gezogenem Säbel vor. Er war jünger als die meisten anderen, Shúria schätzte ihn auf Anfang dreißig. Sein langes, schwarzes Haupthaar war zu zwei Zöpfen geflochten. Trotz der kühlen Nachtluft trug er nur ein ärmelloses Lederwams, sodass seine muskulösen Arme eindrucksvoll zur Geltung kamen. Etwa fünf Schritte vor der geheimnisvollen Fremden blieb er stehen, verneigte sich und sagte respektvoll in verständlichem Hoch-Berith: »Mein Name ist Timur. Ich wache über das Leben des Khans. Wenn Ihr weitergeht oder noch einen meiner Männer verletzt, muss ich Euch töten.«
»Niemand soll mehr zu Schaden kommen«, antwortete sie. »Ich bin nur eine besorgte Mutter auf der Suche nach ihrem Sohn. Es gibt gute Gründe, ihn hier bei Euch zu vermuten. Lasst mich einfach mit Bahadur sprechen.«
Da keine weiteren Pfeile aus ihren Händen schossen, fühlte sich ein zweiter Drachenmann ermutigt, aus der Gruppe seiner Kameraden hervorzutreten. Er war ein massiger Muskelprotz mit einem brutalen Gesicht. Wie ein Schaukämpfer stolzierte er an Timur vorbei bis zu Shúria. »Du bist nur ein Weib«, grunzte er. »Was erlaubst du dir, den Namen unseres großen Anführers ohne seinen Ehrentitel auszusprechen?«
Shúria wischte sich provozierend ruhig den Speichel ab, der ihm aus dem Mund gespritzt war. »Es lag nicht in meiner Absicht, jemandem die Achtung streitig zu machen, die ihm gebührt.« Anstatt den Blick zu senken, wie der grobschlächtige Drachenmann es wohl von ihr erwartete, sah sie ihm offen ins Gesicht.
»Lass sie in Frieden, Batu«, sagte Timur. Obwohl er deutlich jünger als der andere war, schwang Autorität in seiner ruhigen Stimme. Er hatte von »meinen Männern« gesprochen, führte also offenbar das Kommando.
»Sie hat den Großkhan beleidigt«, verteidigte sich der Kraftprotz.
Shúria war nicht gewillt, das Gehabe der Platzhirsche weiter zu ertragen. Sie stemmte die Fäuste in die Seiten und brüllte: »Ari, hörst du mich?«
»Ich bin hier, Mama«, hallte es aus einem nahen Zelt.
»Schweig, Weib!«, schrie Batu und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht.
Sie hatte das Gefühl, der Kopf fliege ihr von den Schultern. Ein warmer, salziger Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. Alles um sie herum drehte sich. Was fanden die Kerle nur dabei, Frauen so brutal zu schlagen? Trotzig spuckte sie das Blut aus, mitten in seine tätowierte Fratze – und erschrak.
Der Muskelprotz begann zu röcheln.
Während sie gegen die Ohnmacht ankämpfte, verschwammen das Lagerfeuer, die Drachenmänner und der sterbende Frauenhasser vor ihren Augen. Schemenhaft sah sie seinen Todeskampf.
»Was geht hier vor? Was hat der Mann?«, vernahm sie von irgendwo eine hohe, kratzende Stimme.
»Dieses Weib hat ihn verzaubert, Herr Bahadur«, antwortete jemand.
Mehr hörte sie nicht. Ihr Bewusstsein ließ sie im Stich.
Etwas Warmes, Weiches strich über Shúrias geschwollene Wange. Obwohl die Berührung sehr sanft war, verzog sie vor Schmerzen das Gesicht.
»Entschuldige, Mama. Ich wollte dir nicht wehtun«, sagte eine zarte Knabenstimme.
Sie riss
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