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Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung

Titel: Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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sowie einen Speer geschenkt. Shúria verzichtete auf die martialische Staffage. Ihre Waffen waren von anderer Art.
    Bald kamen die ersten Jurten in Sicht, graue Schatten, die sich wie große Kröten ins Grasland duckten. Wie von Simli beschrieben, handelte es sich bei dem Lager der Nomaden um eine weitgehend ungeordnete Ansammlung von Rundzelten. Am Rand brannten Wachfeuer, zwischen denen Männer mit tätowierten Gesichten auf und ab gingen.
    »Duck dich«, flüsterte Lauris und zog seine Schwester in die Deckung eines Strauches.
    »Ich will nicht, dass du jemanden tötest«, wisperte sie.
    »Bin ich ein wildes Tier?«
    Sie bedachte ihn mit einem tadelnden Blick, der ihm jedoch entging. Er beobachtete den Posten, der ihm am nächsten war, einen stämmigen Drachenreiter mit breitem Gesicht. Als der Mann kehrtmachte, um seinen Abschnitt in umgekehrter Richtung abzuschreiten, raunte Lauris: »Warte hier.« Dann huschte er aus dem Schutz des Busches hervor.
    Mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen verfolgte Shúria, wie ihr Bruder erneut in die Rolle des unsichtbaren Jägers schlüpfte. Lautlos näherte er sich dem Kesalonier von hinten. Plötzlich drehte sich der Posten um. Im Licht des Wachfeuers sah Shúria seine weit aufgerissenen Augen. Lauris schleuderte seinen Speer.
    Mit dem stumpfen Ende voraus traf das Wurfgeschoss die tätowierte Stirn des Drachenmannes. Ehe er womöglich geräuschvoll zu Boden fallen konnte, hatte ihn der zeridianische Jäger erreicht und fing den Sturz ab. Rasch schleifte er den Bewusstlosen in das Versteck hinter dem Strauch.
    »Auf mein Zeichen folgst du mir«, flüsterte Lauris. Er wartete, bis die Wachen der benachbarten Abschnitte ihnen die Rücken zuwandten. Dann gab er seiner Schwester den Wink.
    Seite an Seite huschten sie in das Lager der Kesalonier.
    Drachenmänner schnarchen genauso wie ihre Geschlechtsgenossen anderswo, dachte Shúria, während sie ihrem Bruder auf einem Zickzackkurs durch die Schatten zwischen den Jurten hindurch folgte. Selten mussten sie Feuern ausweichen. Nur die struppigen Steppenpferde erschwerten ihr Vorankommen. Ab und zu schnaubte eines, wenn es die Fremden witterte. Wo es dabei blieb, zog Lauris seine Schwester einfach weiter. Tieren, die besonders nervös waren, ließ der »König der Wildnis« eine Sonderbehandlung angedeihen: Mit dem Geschick eines Ganesen beruhigte er sie. Vielleicht spürten die Rösser, dass ihnen da einer in seinem tiefsten Innern wesensverwandt war.
    Simli, der sich als Angehöriger eines auch nicht gerade zahmen Piratenvolkes noch am ehesten in die wilden Drachenleute hineinversetzen konnte, hatte ihnen empfohlen, das Quartier des Khans im Zentrum des Lagers zu suchen. Ein guter Rat. Schon von Weitem ließ sich Bahadurs Jurte deutlich ausmachen. Sie war fast doppelt so hoch und größer als die anderen Zelte, die zu ihr respektvoll Abstand hielten. Auf der freien Grasfläche dazwischen lagerten Wachen, die sich an fünf oder sechs Lagerfeuern wärmten. Vor der Jurte war ein edler Rappe festgebunden, ein kleines, ungemein kraftvolles Pferd. In sicherer Entfernung duckten sich Lauris und Shúria hinter ein Zelt.
    »Da kommen wir niemals unbeobachtet rein«, flüsterte er.
    »Davon war auch nicht die Rede«, antwortete sie, erhob sich und trat ohne Zögern aus dem Schatten. Entschlossen stapfte sie auf die Wächter am nächstliegenden Feuer zu. Erst nach einigen Schritten bemerkte sie, dass ihr Bruder zurückgeblieben war. Seine Stimme meldete sich in ihrem Kopf.
    Shúria, was tust du da!
    Das siehst du doch .
    Das ist Wahnsinn. Ich habe nicht genügend Pfeile dabei, um dich zu beschützen.
    Wehe, du schießt auch nur einen einzigen ab! Ich will die Verhandlungen nicht mit Blutvergießen beginnen. Danke, dass du mich bis hierhin gebracht hast, Lauris. Such dir jetzt ein Versteck.
    Komm sofort zurück, Shúria!
    Sie verschloss ihren Sinn vor seiner Geiststimme und lief unbeirrt weiter, bereit, sich für ihren Sohn zu opfern.
    Gleich darauf bemerkte sie einer der Wachposten am Lagerfeuer. Er rief etwas im weichen Dialekt des Drachenvolkes und deutete mit der Hand auf sie. Die anderen Männer sprangen auf und fuhren zu ihr herum. In ihren tätowierten Gesichtern spiegelte sich Überraschung und sogar Entsetzen wider. Eine Frau, noch dazu eine Fremde, schritt furchtlos auf sie zu! Shúria trug ein langes Kleid aus feinem, blauem Tuch, das so leicht wie die Nebel von Zeridia war. So fest, wie diese Leute im Geisterglauben

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