Die zerbrochene Welt 03 - Weltendämmerung
Die obligatorische Tätowierung und die Federohrringe fehlten natürlich nicht. Sowohl sein Körperbau als auch seine Präsenz spiegelten die Wichtigkeit des hohen Amtes wider. Es hieß, der Großkhan sei über sechzig Jahre alt, doch man neigte unwillkürlich dazu, ihn erheblich jünger zu schätzen. Sein flaches, ovales Gesicht wirkte alterslos, und das Schwarz in seinen drei Haarzöpfen behauptete sich wacker gegen das aufziehende Grau.
Für einen Herrscher kleidete er sich überraschend schlicht. Jacke und Hose waren aus schieferfarbener Wildseide und an den Säumen sparsam mit Goldstickereien verziert. Schuhe trug er keine. Gespannt verfolgten seine mandelförmigen, schwarzen Augen jede von Shúrias Bewegungen, als sie vor ihn trat und sich verneigte. Er empfing sie auf dem Boden sitzend, genauer gesagt auf einem Teppichhügel, von dem aus er seine Besucher überragte, sobald sie vor ihm auf die Knie gefallen waren.
»Wirf dich nieder«, blaffte sie der hagere Wächter an, der links hinter ihr stand.
»Lass es gut sein«, beschwichtigte ihn Bahadur. »Unser Gast kennt sich mit den hiesigen Sitten nicht aus.« Mit einem ungeduldigen Wedeln der Hand bedeutete er seinen Beschützern, auf Abstand zu gehen. Während sie sich zum Eingang der Jurte zurückzogen, widmete er sich der Begutachtung seiner Gefangenen. Der lüsterne Blick des Khans schien nach Details zu suchen, die Shúrias duftiges Gewand zwar erahnen, doch nicht wirklich erkennen ließ. Unwillkürlich fühlte sie sich wieder nach Peor zurückversetzt, wo der fette Og sie ganz ähnlich angesehen hatte.
»Knie dich hin, damit ich nicht zu dir aufblicken muss«, befahl Bahadur, als es für seine Augen nichts Neues mehr zu entdecken gab.
Widerstrebend gehorchte sie.
»Schade um dein schönes Gesicht«, sagte er beiläufig.
Ihr fiel nichts Freundliches ein, das sie darauf hätte erwidern können.
»Du sollst wissen, dass ich nicht billige, was Batu dir angetan hat. Ich hoffe, du behältst kein Andenken zurück, das die Gastfreundschaft der Kesalonier in ein falsches Licht rücken würde. Sonst müsste man ja die Lieder umschreiben, die deine Schönheit preisen.«
Sie erschauderte. Er hatte sie also durchschaut.
»Du bist doch Shúria, das Weib des großen Helden Taramis, nicht wahr?«, bohrte er nach.
»Ich fürchte, Ihr verwechselt mich«, antwortete sie ausweichend. Sie spürte ein unangenehmes Ziehen in den Beinen. Das Sitzen auf den Unterschenkeln war ungewohnt für sie.
Er lächelte. »Das halte ich für ausgeschlossen. Du hast heute Nacht deinen Jungen beim Namen gerufen: Ari . Der Sprössling von Taramis und Shúria heißt genauso.«
»Das ist Zufall. Ari ist Alt-Berith und bedeutet Löwe. Viele Eltern nennen ihre Söhne so.«
»Ist es auch ein Zufall, dass ihr beide Zeridianer seid? Als du ohnmächtig warst, habe ich die Kiemenspalten in deinem Nacken gesehen.«
»In meinem Volk ist der Name Ari besonders beliebt.«
Die Miene des Khans verfinsterte sich. »Es heißt, die Bewohner des Archipels seien für ihre Gottergebenheit und die Treue gegenüber der Heiligen Insel bekannt. Wenn du nicht Elis Tochter bist, dann wirst du Taramis doch zumindest kennen.«
Shúria schwieg. Jede ausweichende Antwort hätte bedeutet, ihren Liebsten zu verleumden.
»Rede endlich!«, brauste Bahadur unvermittelt auf.
Shúria schlug die Augen nieder. Sie tat es für Ari und um den Khan nicht unnötig zu reizen. Im Tonfall einer hilflosen Frau erwiderte sie: »Alles, was ich dazu sagen kann, würde Euren Zorn nur noch weiter schüren.«
»Du bist wie eine Sandviper«, sagte er in drohendem Ton. »Deine Zunge ist gespalten, und wer dir zu nahe kommt, den tötet dein Gift. Nenne mir einen Grund, warum ich dich schonen sollte.«
Sie hob den Blick und sah ihn offen an. »Wenn Ihr meinem Sohn oder mir etwas zuleide tut, vergeht Ihr Euch an unschuldigem Blut.«
Seine Brust bebte von unterdrücktem Gelächter. »Und? Wer wird mein Richter sein? Etwa Taramis, dein Mann?«
»Ihr mögt nicht an Gaos Macht glauben, doch ich versichere Euch, sein Arm ist nicht zu kurz, um auch in Eurem Reich Unrecht zu bestrafen.«
Der Nomadenführer lachte ungehemmt. »Es gibt drei Dinge, auf die wir hier wenig Rücksicht nehmen: Frauen, Fremde und Fromme. Ich frage dich ein letztes Mal: Bist du Taramis’ Weib?«
Unbewusst legte Shúria die Hand an ihre Brust, um das beruhigende Gewicht des Sternensplitters zu fühlen. Nun war die Stelle auf ihrem Herzen leer. Was sollte sie
Weitere Kostenlose Bücher