Die Zeugin: Thriller (German Edition)
Tante richtete sich auf sie.
»Glaubst du, dass Lee je zurückkommt, um das Geld zu holen?«
»Lee ist tot.«
Es war wie ein Blitz in Rorys Kopf. Ein Blitzstrahl, der für Klarheit sorgte. Sie war nicht bestürzt. Eher schon erleichtert. »Weißt du das bestimmt?«
»Sein Grab habe ich nie gesehen, trotzdem bin ich mir sicher.«
»Warum?«
»Ich kenne meinen Lee. Er wäre nie für immer verschwunden, nicht einmal nach einem krummen Ding. Ein paar Monate lang wäre er vielleicht untergetaucht. Oder ein Jahr. Aber zwanzig?« Sie biss sich auf die Lippe. »Unmöglich.«
»Kein Zweifel?«
»Er ist nie gut allein zurechtgekommen. War immer auf Hilfe von der Familie angewiesen. Er war kein Anführer, sondern ein Mitläufer. Mein Mann, und er hat mich gebraucht.«
Er hat eine Frau gebraucht. »Ich sage es ungern, aber …«
»Du meinst, er könnte sich dort unten in Mexiko mit einer Señorita zusammengetan haben? Klar. Lee hatte eine Schwäche für Frauen. Und es gab einige.« Ihr angespanntes Gesicht schien mehr anzudeuten, als sie aussprach.
Rory verstand noch immer nicht. »Warum bist du dir so sicher? Hast du Beweise?«
»Er hat nie Kontakt zu mir aufgenommen.«
»Kein einziges Mal?«
»Hat nicht angerufen, hat nicht geschrieben. Ich weiß, du hast noch Postkarten von ihm. Meinst du etwa, die waren wirklich von ihm?« Amber machte eine wegwerfende Handbewegung.
Rory schüttelte den Kopf. Das war ihr bereits klar. Die Postkarten waren nur ein Trostpflaster gewesen, um ihr weis zumachen, dass Onkel Lee noch an sie dachte. »Auch bei Riss oder Boone hat er sich nie gemeldet?«
»Nie.«
Inzwischen hatten die Deputys dem Regenwurm Handschellen angelegt und ihn hinten in einen Streifenwagen verfrachtet. Seine glatte, wuchtige Gestalt füllte die gesamte Bank. Über Funk veranlassten die Beamten die Fahndung nach Grigor Mirkovic. Dann sprachen sie kurz mit Seth.
Rory konzentrierte sich wieder auf ihre Tante. »Wann hast du zum letzten Mal mit Lee geredet?«
»Eine Woche vor dem Raubüberfall. Nach dem Aufstehen hat er sich zum Frühstück Kaffee gemacht und drei Spiegeleier und Pfannkuchen mit Ahornsirup und Rum verputzt. Hat erzählt, dass er nach L. A. muss, weil er da was am Laufen hat. Dann hat er sich eine Wurst zwischen die Zähne geklemmt wie eine Zigarre, ist in seinen Wagen gestiegen und weggefahren. Danach habe ich ihn nie mehr gesehen.«
Rory stockte kurz. »Mindy Xavier.«
Amber senkte den Blick und beschloss wohl, dass sie genauso gut weiterreden konnte. »Lee hat Informationen mit ihr ausgetauscht.«
Rory brauchte einen Moment, um zu begreifen. »Das heißt aber nicht, dass er ihr Informant war.«
Amber wollte ihr nicht offen in die Augen sehen.
»Du hast gewusst, dass sie korrupt ist«, erklärte Rory. »Xavier hat ihm die Strecke und den Zeitplan für den Geldtransport verraten.«
Amber zuckte die Achseln. Besorgt schielte sie zu Boone und kratzte sich an den Armen.
Rory ließ sich die Sache durch den Kopf gehen. Zur Zeit des Raubüberfalls war Xavier sicher noch Streifenpolizistin, stand vielleicht ganz am Anfang ihrer Karriere. Es war unwahrscheinlich, dass sie Zugang zu derart sensiblen Informationen hatte. Zumindest nicht über offizielle Kanäle. In plötzlicher Erkenntnis straffte sie die Schultern. »Lucky Colder.«
Amber bekam große Augen.
Rory nickte. »Er steckt mit drin, oder?«
Symmetrie der Altlasten. Von Lee Mackenzie zu Boone und Riss. Von Will Mackenzie zu Rory.
Doch sie waren nicht die Einzigen. Ein Insider.
Lucky hatte an der Untersuchung mitgewirkt und arbeitete noch immer gelegentlich an ungeklärten Fällen. Lucky hatte Seth davon abgeraten, die Sache zu verfolgen. Er wollte nicht, dass sein Sohn zu tief grub.
Die Sonne stach sie in die Augen, und auf einmal musste sie blinzeln, weil ihr das Licht so grell erschien.
Mirkovic wusste, dass Rorys Handabdruck auf dem Flucht auto war. Boone wusste es ebenfalls. Diese Information konnte nur von der Polizei von Ransom River stammen. Von der Kriminalabteilung.
Viel näher als vermutet drang plötzlich Seths Stimme an ihr Ohr. »Wo hast du das gehört?« Er wirkte erschöpft und presste eine Hand an die Brust.
Ein Deputy rief ihm hinterher. »Spiel nicht den harten Mann, lass dich lieber röntgen.«
Er nickte kurz, ohne den Blick von Rory zu nehmen. »Mein Dad?«
Sosehr sie ihn schonen wollte, dafür war jetzt keine Zeit mehr. Sie fühlte sich, als müsste sie sich die Pulsadern aufschneiden, um ihr ganzes
Weitere Kostenlose Bücher