Die Zeugin: Thriller (German Edition)
Leben mit allen Familienbanden, Freundschaften und Ängsten heraussickern zu lassen.
Sie schaute ihm offen in die Augen. »Ich glaube, dein Dad hat Informationen weitergegeben, die letztlich bei den Räubern gelandet sind.«
»Das habe ich mitgekriegt. Wie kommst du darauf?«
»Das ist die einzig logische Schlussfolgerung.«
Amber hatte nichts abgestritten, hatte Rory nicht erklärt, dass sie auf der falschen Spur war. Wahrscheinlich wusste ihre Tante viel mehr, als sie zugab. Auch wenn das Wissen vielleicht unter Jahrzehnten der Verbitterung, Enttäuschung und Scham begraben lag.
»Es gab einen Insider«, fuhr Rory fort. »Jemand, der den Zeitplan für den Geldtransport kannte. Darauf musst du doch auch schon gekommen sein, Seth.«
Er blieb ihr die Antwort schuldig.
»Das war kein Angestellter von der Bank. Das FBI hat ihnen genau auf den Zahn gefühlt und nichts gefunden. Auch von der Federal Reserve war es niemand – die Leute dort wuss ten nur, wann die Lieferung eintrifft, aber nicht, wo überall auf der Strecke Geld abgeholt wird. Die Sicherheitsfirma war es auch nicht. Bleibt nur noch die Polizei von Ransom River.«
Er presste die Lippen zusammen. »Und?«
Rorys Gesicht brannte. Ihr Instinkt forderte sie auf, die Worte hinunterzuschlucken und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie musste sich zum Sprechen zwingen. »Vor zwanzig Jahren war dein Dad ziemlich schlecht drauf.«
Seth schwieg, doch er wusste, was sie meinte: nächtelange Zechgelage, eine kriselnde Ehe.
»Vielleicht hat er es Xavier zufällig verraten. Es könnte ihm rausgerutscht sein, und später hat er sich nicht einmal mehr daran erinnert.« Sie verzichtete auf die Formulierung alkoholbedingter Filmriss. »Und seitdem versucht er, die Sache irgendwie wiedergutzumachen. Selbst im Ruhestand. Deswegen kniet er sich so in diesen ungeklärten Fall rein.«
Seth schüttelte den Kopf und wurde bleich.
»Lee ist tot, Seth. Amber ist davon überzeugt, und ich auch. Er ist schon vor langer Zeit gestorben. Möglicherweise schon kurz nach dem Raub.«
»Und?«
»Die anderen Gangster sind entweder tot oder wurden damals verhaftet. Aber das heißt nicht, dass Lee ganz allein war. An der Planung des Überfalls war noch jemand anders beteiligt.«
Und Lee hätte sich nie damit abgefunden, das Geld zurückzulassen und sich in Mexiko irgendwie durchzuschlagen. Fünfundzwanzig Millionen Dollar für immer aufgeben? Nie im Leben. Er hätte garantiert versucht, es sich zu holen. Und weil er nie gut allein zurechtgekommen war, hätte er sich Hilfe gesucht. Sich an jemanden gewandt, der genauso verzweifelt darauf aus war wie er.
»Der Insider«, erklärte sie. »Den hätte Lee um Hilfe gebeten, um mit dem Geld fliehen zu können. Doch der Insider fand es vielleicht einfacher, Lee zu beseitigen und sich die ganze Beute unter den Nagel zu reißen.«
»Und du glaubst, das war mein Vater?«
»Ich glaube, es war Xavier. Und Xavier war damals noch zu jung, um in den genauen Zeitplan eingeweiht zu werden.«
Seth schien kurz davor, zusammenzuklappen und in die Knie zu sinken. »Nein, Rory. Das ist …« Der Schock schlug in Kränkung um, und er machte einen Schritt zurück.
Amber schüttelte den Kopf. »Ich kenne Lucky. Der würde sich nie bestechen lassen oder gar vorsätzlich jemanden umbringen.«
Wieder fegte ein Windstoß über den Hügel. Ambers Kleid blähte sich, und ihre Mähne flatterte über dem Kopf wie bei Medusa. Erbarmungslos drang die Kälte durch Rorys nasse Kleidung.
Vorn beim Abschlepplaster stieß ein Deputy einen alarmierten Ruf aus. Mit einer Hand an den Rippen hastete Seth hinüber. Um Boone bildete sich ein Kreis. Wie durch einen Nebel nahm Rory wahr, dass Seth sich hinkniete und mit Wiederbelebungsmaßnahmen begann.
Dann merkte sie, wie sie sich von dem Geschehen löste. Unter ihren Füßen schien der Boden wegzubrechen.
Mit einem lauten Ächzen rannte Amber hinüber zu ihrem Sohn. Schreiend forderte sie die Deputys auf, etwas zu tun. Das Heulen der Krankenwagensirene wurde lauter; er war fast da. Seth beugte sich über Boone und drückte in regelmäßigen Abständen auf seine Brust. Auf seine Schultern fielen hell die Sonnenstrahlen.
Den Arm fest um Addie geschlungen, stolperte Rory zum Haus. Sie hatte das Gefühl, jeden Halt verloren zu haben.
In der Küche fand sie Ambers Autoschlüssel. Sie lief in die Garage und ließ den alten Motor an. Kurz darauf rollte sie auf die Straße und war unterwegs zu ihren Eltern.
55
Rory
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