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Die Zitadelle des Autarchen

Die Zitadelle des Autarchen

Titel: Die Zitadelle des Autarchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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    Während der nächsten hundert Schritte oder mehr war Meister Ash noch nicht ganz verschwunden. Ich spürte seine Anwesenheit und bekam ihn – wie er einen halben Schritt neben und hinter mir ging – manchmal sogar zu Gesicht, wenn ich nicht versuchte, ihn direkt anzusehen. Wie ich ihn wahrgenommen habe, wie er gewissermaßen anwesend und abwesend zugleich hat sein können, das weiß ich nicht. Unsere Augen empfangen einen Photonenregen ohne Masse oder Ladung von einem Partikelschwarm, Milliarden Sonnen gleich – so hat Meister Palaemon, selber fast blind, mich gelehrt. Anhand des Musters dieses Photoneneinfalls glauben wir, einen Menschen zu sehen. Manchmal ist der Mensch, den wir zu sehen glauben, so illusorisch wie Meister Ash oder mehr.
    Seine Weisheit spürte ich ebenfalls. Es war eine melancholische Weisheit, aber eine wirkliche. Ich wünschte mir unwillkürlich, er hätte mich zu begleiten vermocht, obgleich mir einleuchtete, daß dies das Nahen des Eises zu einer Gewißheit machen würde. »Ich bin einsam, Meister Ash«, sagte ich und wagte nicht, mich umzusehen. »Wie einsam, das merke ich erst jetzt. Ihr wart auch einsam, denke ich. Wer war die Frau, die Ihr Rebe nanntet?«
    Vielleicht war seine Stimme nur Einbildung. »Die erste Frau.«
    »Meschiane? Ja, ich kenne sie, und sie ist sehr schön. Meine Meschiane war Dorcas, und ich sehne mich nach ihr, aber auch nach allen anderen. Als Thecla Teil von mir wurde, glaubte ich, nie mehr einsam zu sein. Nun ist sie aber so sehr Teil von mir, daß wir nur eine Persönlichkeit sind und ich mich einsam fühlen und nach anderen sehnen kann. Nach Dorcas, nach Pia, dem Inselmädchen, nach dem kleinen Severian und Drotte und Roche. Wäre Eata bei mir, könnt’ ich ihn in die Arme schließen.
    Am allerliebsten möchte ich Valeria sehen. Jolenta war die schönste Dame, die mir je begegnet ist, aber Valerias Gesicht hatte etwas an sich, das mir das Herz aus dem Leibe riß. Ich war wohl noch ein Knabe gewesen, auch wenn ich damals anders dachte. Ich kroch aus dem Dunkeln hinauf und hinaus und fand mich in einem Hof wieder, der Atrium der Zeit genannt wurde. Türme – die Türme von Valerias Familie – ragten an allen Seiten empor. In der Mitte stand ein Obelisk, mit Sonnenuhren versehen. Obzwar ich mich noch genau an seinen Schatten im Schnee erinnere, kann es dort höchstens ein paar Wachen am Tag sonnig gewesen sein; die Türme haben die Sonne wohl die meiste Zeit verdeckt. Ihr versteht mehr als ich von der Welt, Meister Ash – könnt Ihr mir sagen, wieso man den Hof so gebaut hat?«
    Der Wind, der über den Fels strich, erfaßte meinen Mantel, so daß er mir über die Schultern flatterte. Ich zog ihn wieder zurecht und setzte die Kapuze auf. »Ich war auf der Suche nach einem Hund. Ich hatte ihn Triskele genannt und redete mir ein, er gehöre mir, obwohl es mir gar nicht gestattet war, einen Hund zu halten. An einem Wintertag hatte ich ihn gefunden. Wir hatten gerade Wäsche – wir wuschen das Bettzeug der Klienten –, und der Abfluß war durch Fetzen und Fusseln verstopft. Ich hatte mich vor meiner Arbeit gedrückt, und Drotte sagte mir, ich solle hinausgehen und mit einer Wäschelatte in das Rohr hinaufstochern. Der Wind war entsetzlich kalt. Das war Eure nahende Eiszeit, denk’ ich, obwohl ich das damals noch nicht wußte – die Winter waren jedes Jahr ein bißchen strenger. Und sobald ich den Abfluß freibekommen hatte, schoß natürlich jedesmal die Brühe heraus und mir über die Hände.
    Ich hatte eine Wut im Bauch, weil ich nach Drotte und Roche der älteste Lehrling war und glaubte, einer der jüngeren hätte eine solche Schmutzarbeit verrichten sollen. Ich stocherte mit meiner Latte im verstopften Rohr herum, als ich ihn auf der anderen Seite des Alten Hofes sah. Die Wärter des Bärenturms hatten wohl am Vorabend einen kleinen Kampf abgehalten und die toten Tiere zum Abholen vor ihre Tür geworfen. Es lagen dort ein Arsinoitherium, ein Smilodon, ein paar gräßliche Wölfe und zuoberst der Hund. Ich vermutete, er war als letzter verendet; den Wunden nach zu urteilen, hatte einer der gräßlichen Wölfe ihn getötet. Aber er war natürlich gar nicht tot, sondern sah nur so aus.
    Ich ging hinüber zu ihm – ein guter Grund, meine Arbeit zu unterbrechen und mir an meinem Atem die Hände zu wärmen. Er war steif und kalt wie … nun, wie ich’s noch nie gesehn hatte. Ich habe einmal mit dem Schwert einen Stier getötet, und als er sterbend

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