Die Zitadelle des Autarchen
mein Weib.«
»Zu diesem Zeitpunkt sind bereits viele deines Volkes fort«, erklärte Meister Ash. »Jene, die ihr Cacogens nennt, haben sie gnädigerweise in schönere Welten gebracht. Noch viele mehr werden vor dem Endsieg des Eises fort sein. Ich selbst, weißt du, bin ein Nachkomme dieser Flüchtlinge.«
Ich fragte, ob jedem die Flucht gelingen werde.
Er schüttelte den Kopf. »Nein, jedem nicht. Manche wollten nicht, wieder andere waren unauffindbar oder nicht unterbringbar, weil’s keine Bleibe gab.«
Ich blickte eine Weile hinaus in jenes vom Eis belagerte Tal und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Schließlich sagte ich: »Es hat sich schon immer gezeigt, daß Männer der Religion tröstliche Worte sprechen, die nicht wahr sind, während Männer der Wissenschaft gräßliche Wahrheiten verkünden. Die Chatelaine Mannea nannte Euch einen heiligen Mann, aber Ihr seid, wie mir scheint, ein Mann der Wissenschaft, der von den Seinen, wie Ihr selber sagt, auf die Urth entsandt ist, um das Eis zu erforschen.«
»Die Unterscheidung, von der du sprichst, ist nicht mehr zutreffend. Sowohl die Religion als auch die Wissenschaft verlangen seit jeher den Glauben an etwas. Es ist ein und dasselbe. Du selbst bist ein Mann der Wissenschaft, wie du’s nennst, also führe ich ein wissenschaftliches Gespräch mit dir. Wenn Mannea mit ihren Priesterinnen hier wäre, würde ich anders sprechen.«
Ich habe so viele Erinnerungen, daß ich mich oft in ihnen verliere. Während ich nun zu den Kiefern ausschaute, die im Wind schwankten, den ich nicht spüren konnte, war mir, als hörte ich einen Trommelwirbel. »Ich habe schon einmal einen Mann kennengelernt, der sagte, er sei aus der Zukunft«, erzählte ich. »Er war grün – fast so grün wie diese Bäume – und berichtete mir, daß seine Zeit die Zeit einer helleren Sonne sei.«
Meister Ash nickte. »Das war bestimmt keine Lüge.«
»Ihr aber sagt mir, was ich nun sehe, liege nur ein paar Menschenleben voraus, sei Teil eines Prozesses, der schon begonnen habe, und führe zur letzten Eiszeit. Entweder seid Ihr ein falscher Prophet oder er.«
»Ich bin kein Prophet«, antwortete Meister Ash, »wie auch er keiner gewesen ist. Niemand kann das Kommende wissen. Wir reden wohlgemerkt von der Vergangenheit.« Wieder war ich zornig. »Ihr sagtet, dies sei nur ein paar Menschenleben voraus.«
»Ja, ja. Aber du und diese Szene, das ist für mich alles Vergangenheit.«
»Ich bin nicht Vergangenheit! Ich gehöre zur Gegenwart.«
»Von deinem Standpunkt aus hast du recht. Aber du vergißt, daß ich die Dinge nicht von deinem Standpunkt aus sehen kann. Das ist mein Haus. Durch meine Fenster hast du geblickt. Mein Haus wurzelt in der Vergangenheit. Ohne diesen Umstand würde ich hier den Verstand verlieren. So ist’s nun einmal. Ich lese in diesen vergangenen Jahrhunderten wie in Büchern. Ich höre die Stimme der längst Verblichenen; darunter auch die deine. Du hältst die Zeit für einen Faden. Sie ist ein Gewirk, ein Teppich, der endlos in alle Richtungen reicht. Ich verfolge einen Faden zurück. Du folgst einer Farbe nach vorn – welcher, das kann ich nicht wissen. Weiß führt dich vielleicht zu mir, Grün zu deinem grünen Mann.«
Da ich nicht recht wußte, was ich sagen sollte, murmelte ich nur, daß ich mir die Zeit immer als Fluß, als Strom vorgestellt hätte.
»Klar – du warst aus Nessus, nicht wahr? Und das war eine Stadt an einem Fluß. Früher war’s jedoch eine Stadt am Meer, und ich würde dir raten, dir die Zeit als Meer vorzustellen. Die Wellen steigen und fallen bei Flut und Ebbe, und darunter gibt’s Strömungen.«
»Ich möchte hinuntergehn«, sagte ich. »In meine eigene Zeit zurückkehren.«
»Versteh’ ich«, meinte Meister Ash.
»Das scheint mir fraglich. Eure Zeit ist, wenn ich Euch richtig verstanden habe, diejenige des obersten Stockwerks Eures Hauses, und Ihr habt ein Bett dort stehen und allerlei nützliche Sachen. Dennoch schlaft Ihr, wenn Euch die Arbeit nicht in ihren Bann schlägt, hier – so habt Ihr wenigstens gesagt. Trotzdem behauptet Ihr, dieses hier sei meiner Zeit näher als der Eurigen.«
Er erhob sich. »Ich meinte, daß auch ich vor dem Eis fliehe. Wollen wir gehn? Du wirst etwas zu essen brauchen, bevor du den langen Rückweg zu Mannea antrittst.«
»Ihr auch«, berichtigte ich.
Er hatte mir einen Blick zugeworfen, ehe er seine Schritte zur Treppe kehrte. »Ich sagte bereits, ich kann nicht mit dir gehn. Du hast dich
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