Die Zuckerbäckerin
jedermanns Sache.
Auf der kleinen Porzellanuhr neben ihrem Bett war es fast sechs Uhr morgens. Sie fühlte, daà der Schlaf jetzt bereitwillig zu ihr kommen würde, doch genau dies konnte sie nicht zulassen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis Niçoise mit ihrem Frühstück vor der Tür stand. Und kurz danach würde die Kinderfrau mit der kleinen Marie kommen. Der Gedanke an ihre erste Tochter lieà Katharinas ermüdete Gesichtszüge weich werden. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Der Tag, der vor ihr lag, würde lang werden, und da konnte es nicht schaden, ihn so früh wie möglich zu beginnen.
Nachdem sie den Brief an ihre Mutter verschlossen undversiegelt hatte, ging sie zum Fenster. Wie schön, sich wieder ohne den enormen Leibumfang der letzten Wochen bewegen zu können! Die kalte und feuchte Luft tief in ihre Lungen einsaugend, blickte sie über die langsam erwachende Stadt. Wie Glühwürmchen leuchteten die StraÃenlaternen die einzelnen Gassen und Wege aus und erzeugten eine trügerische Wärme. Vom SchloÃhof drangen die ersten Küchengeräusche zu ihr herauf. Jemand lieà scheppernd einen Eimer zu Boden fallen, doch sonst war es noch still. Frühaufsteher wie Katharina waren selten am Stuttgarter Hof, selbst Wilhelm lieà sich in den Wintermonaten vor acht Uhr morgens nicht blicken. Doch Katharina schätzte die frühen Morgenstunden, die sonst niemand haben wollte.
Sie lächelte. Wie schnell hatte sie sich hier in Stuttgart eingelebt! Sie empfand weder Fremdheit noch Einsamkeit. Selbst hier, im Stuttgarter SchloÃ, fühlte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen wohl und geborgen. Nur wenige Tage nach Friedrichs Tod hatte Wilhelm darauf bestanden, das kleine Bellevue mit dem gesamten Hofstaat auf unbestimmte Zeit zu verlassen und statt dessen mitten in der Stadt zu residieren. In der Stadt, die Katharina so zu lieben gelernt hatte. Vielleicht lag es daran, daà ihre Mutter ihr und den Geschwistern von klein auf Geschichten aus der Heimat erzählt hatte. So hatte Katharina schon bevor sie nach Württemberg kam, das Gefühl gehabt, Land und Leute zu kennen.
Wie sehr sie Maria Feodorowna vermiÃte! Immerhin fühlte Katharina die Kraft und innere Stärke ihrer Mutter in sich, die davon herrührt, daà sich ein Mensch von Eitelkeiten freispricht. Wie sehr sie dagegen Petersburg mit seiner eingebildeten, einfältigen und oberflächlichen Gesellschaft haÃte! Pitta, wie es im affektierten Ton seiner Bewohner genannt wurde â als handele es sich um ein kleines, mit Juwelen behängtes SchoÃhündchen. Nein, dorthin zog sienichts mehr. Spätestens im nächsten Frühjahr, wenn die StraÃen wieder passierbar waren, würde sie ihre Mutter und vielleicht auch Alexander bitten, Stuttgart einen Besuch abzustatten.
Wenn sie weiterhin so untätig herumsaÃ, würde sie bis dahin nicht viel Rühmliches vorzuweisen haben, schalt sie sich und schloà mit einem Ruck das Fenster. Auf dem Weg in ihr Arbeitszimmer stattete sie der kleinen Marie einen kurzen Besuch ab. Die kleine Prinzessin war in einem anderen Flügel des SchlöÃchens zusammen mit Milena untergebracht. Obwohl sich Katharina nach ihrer eigenen, oft einsam verbrachten Kindheit geschworen hatte, selbst mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen, zwang sie sich nach einer knappen Viertelstunde, Maries Wiege den Rücken zu kehren. Bei Milena war sie in den besten Händen, das wuÃte sie. Trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, als sie sich gegen acht Uhr morgens in ihr Arbeitszimmer begab, ohne ihre beiden Söhne auch nur kurz gesehen zu haben.
Und dazu sollte sie auch den ganzen Tag über nicht kommen. Die Debatte mit ihren drei engsten Beratern über den von ihr geplanten Wohltätigkeitsverein dauerte bis in den späten Nachmittag hinein und wurde lediglich von einem kurzen Mittagsmahl unterbrochen. Doch als Katharina schlieÃlich die Tür ihres Arbeitszimmers hinter sich zuzog, tat sie dies mit einem Gefühl seltener Zufriedenheit. Zugegeben, ihren ursprünglichen Plan, den Wohltätigkeitsverein ausschlieÃlich mit Damen der Gesellschaft betreiben zu wollen, hatte sie fallenlassen müssen. Aber insgeheim hatte sie von Anfang an damit gerechnet, daà weder der Stuttgarter Verleger von Cotta, noch Bankier Rapp oder Geheimrat von Hartmann Gefallen daran finden würden ⦠Für die Aufgaben
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