Die Zuckerbäckerin
unglaubliche Not nicht vorstellen, die in Eurem (und nun auch meinem) geliebten Württemberg herrscht! Nach dem kalten, verregneten Sommer mit seinen vielen Hagelgewittern ist die Ernte fast gänzlich ausgefallen. Deshalb sind die Preise für Butter und Brot, für Kartoffeln und Fleisch innerhalb der letzten Wochen um das Dreifache gestiegen! Ich bin so verzweifelt, daà ich manchmal fast verzagen könnte! Wie soll ich die mir anvertrauten Menschen ernähren? Manchmal befürchte ich, daà Wilhelm die AusmaÃe der verheerenden Armut nicht einmal erahnt! ChÑre Maman, betet für mich, daà ich die Kraft habe, meinem Land in diesen schweren Zeiten hilfreich zur Seite zu stehen.
Doch ich will nun nicht weiter jammern, verzeiht mir meine Schwäche! Habt Ihr mir nicht gezeigt, wie eine Landesmutter für das Wohl ihrer Kinder sorgen kann? Nun, ich werde mich an jedes Eurer Worte erinnern. Die ersten Schritte habe ich schon eingeleitet, indem ich an meinen verehrten Bruder Alexander schrieb. Und schon gestern hielt ich das Antwortschreiben des Zaren in der Hand! Sehr gerne würde er meiner Bitte nachkommen und württembergischeBauern in RuÃland willkommen heiÃen. Ich könnte ihn dafür umarmen und bitte Euch, verehrte Maman, dies in meinem Namen zu tun, wenn Ihr Euren Sohn das nächste Mal seht! Wahrscheinlich werden die ersten Schiffe mit württembergischen Bauern schon im nächsten Frühjahr ablegen! Wenn ich durch meine Bemühungen nur eine einzige Bauernfamilie vor dem sicheren Hungerstod retten kann, haben sie sich schon gelohnt! Doch Ihr habt mich gelehrt, in gröÃeren Ordnungen zu denken, und so stelle ich mir vor, daà mindestens zweihundert Familien in meinem geliebten RuÃland eine neue Heimat finden werden! Mein groÃzügiger Bruder hat mir zugesichert, daà er jedem der Neuankömmlinge ausreichend fruchtbares Land zur Verfügung stellen und sie zehn Jahre lang von Steuern und Abgaben verschonen will. Danken wir Gott für einen so groÃzügigen Sohn, Bruder und Zaren! Leider fehlt es Wilhelm im Augenblick noch an der Gabe, eine bessere Zukunft für die Auswanderungswilligen vorherzusehen. Ist es nicht seltsam, daà ein Mensch, der in seinem Leben schon so viel Wandel und Wechsel erlebt hat, selbst so wenig Visionen besitzt? Ich habe mir jedoch vorgenommen, an Wilhelms Seite die Visionen und den Mut zu haben, an dem es ihm vielleicht hin und wieder mangelt. Noch heute will ich meine Berater empfangen, um in ihrem Kreis über weitere Schritte nachzudenken, welche die Not meines Volkes lindern können. Denkt an mich â betet für mich â, und gebt mir Stärke in meinem Bestreben, eine wahrhaft gute Landesmutter zu werden!
In Liebe und freundlichem Gedenken â Eure Euch liebende Tochter Katharina
Ermüdet lehnte sich Katharina zurück und streckte die Beine aus. Noch einmal überflog sie den Brief. Woran lag es nur, daà sie Wilhelm gerade seine Schaffenskraft und seinen kühlen Verstand zum Vorwurf machte, wo es doch eben diese Wesenszüge waren, die damals in Wien eine so groÃe Anziehungskraft auf sie ausgeübt hatten?
Damals, als sie selbst nicht mehr wuÃte, wo Gott einen Platz für sie vorgesehen hatte, als sie sich ziellos wie ein Schmetterling treiben lieàâ da war ihr Wilhelm, der württembergische Cousin, wie ein sicherer Fels in wilder Brandung erschienen. Sie hatte ihn um seinen kühlen Verstand beneidet, der ihn â ungetrübt von verwirrenden Gefühlen â Entscheidungen treffen oder Standpunkte einnehmen lieÃ. Noch heute erinnerte sie sich an die nächtelangen Gespräche, die sie abseits vom heiteren Tanzgetümmel miteinander geführt hatten. Entzückt hatten sie dabei festgestellt, daà ihnen beiden die Freude an scharfsinnigen Ãberlegungen und logischen SchluÃfolgerungen gemein war. Nach den Wochen leeren Geredes war Wilhelm wie eine frische Brise in Katharinas Herz gefegt, und ihm muÃte es mit seiner russischen Cousine wohl nicht anders gegangen sein, denn sein Werben um sie wurde von Tag zu Tag heftiger. Was sie damals als Scharfsinn betrachtete hatte, sollte ihr nun als Phantasielosigkeit gelten? Katharina seufzte. Was war nur geschehen, daà sie Wilhelm inzwischen mit anderen Augen betrachtete? Die groÃen Visionen, wie Alexander und wenige andere sie in sich verspürten, waren nun einmal nicht
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