Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
Vom Netzwerk:
Wenn ich nicht weiß, was draußen vor sich geht, werde ich bestimmt nicht gesund.«
    Sie seufzte leise und fuhr sich müde mit der Hand durchs Haar. Wahrscheinlich hatte sie die ganze Nacht auf diesem Stuhl verbracht und gewartet, bis ich aufwachte. In diesem Moment kam Edmund herein. Meine Pflegemutter fragte ihn, ob es tatsächlich möglich sei, dass ich noch sturer war als sie, aber Edmund erwiderte nichts darauf.
    » Ich habe deine Stiefel repariert«, sagte er stattdessen.
    Die Geste rührte mich zutiefst. Edmund war kein Gefühlsmensch. Statt mich zu umarmen, reparierte er meine Schuhe, aber so war er nun einmal. Ich nickte ihm zu, und Tränen stiegen mir in die Augen. » Danke. Ich habe ihnen einiges zugemutet.«
    » War mir ein Vergnügen«, sagte er leise und ging wieder nach unten.
    » Wahrscheinlich schadet es nicht, wenn ich es dir erzähle«, murmelte Oma Oaks schließlich. » Aber wenn du versuchst aufzustehen, schicke ich nach Doc Tuttle, damit er dir einen weiteren Trunk verabreicht. Dann schläfst du noch mal zwei volle Tage.«
    » Ich habe zwei Tage geschlafen?« Inzwischen musste einiges passiert sein, und ich lag hier und konnte nicht eingreifen. Andererseits hatte ich meinen Beitrag bereits geleistet.
    » Ja. Sie haben die Stadt umzingelt, doch im Moment bleiben sie außer Schussweite. Sie scheinen uns zu beobachten.«
    » Und schmieden ihre Pläne«, ergänzte ich grimmig.
    Oma Oaks’ Blick wurde hart. » Früher hätte ich dich ja für verrückt erklärt, aber inzwischen glaube ich, du hast recht. Sie schätzen die Lage ab und überlegen, wie sie die Stadt stürmen können.«
    » Aber das können sie nicht, oder?«
    » Nein. Natürlich nicht. Vorsteher Bigwater lässt gerade die Palisade verstärken, und die Wachen wurden verdoppelt. Wir sind hier absolut sicher. Mach dir keine Sorgen.«
    Sie wollte es nicht zugeben, aber der Ausdruck auf ihrem Gesicht sprach Bände: Oma Oaks ängstigte sich zu Tode. Sie belog mich, um mich nicht zu beunruhigen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen verrieten die schlaflosen Nächte, und ihre Unterlippe war an einer Stelle aufgebissen. Eine Frau, die sich keine Sorgen um die Zukunft machte, sah anders aus.
    Ich spielte ihr Spiel mit. » Das ist schön.«
    » Iss noch ein wenig, und dann ruh dich aus. Versprichst du es mir?« Sie schaute mich so lange an, bis ich schließlich nickte.
    » Welcher Tag ist heute?«, fragte ich.
    Sie sagte es mir, und ich musste lachen. Es war ein bitteres, freudloses Geräusch.
    Eigentlich hatte sie gerade wieder nach unten gehen wollen, doch als sie mein Glucksen hörte, machte sie auf dem Absatz kehrt und setzte sich zu mir aufs Bett. » Was ist los?«
    » Das ist mein Tag«, erklärte ich. » Der Tag, an dem ich geboren wurde. Als er sich das fünfzehnte Mal wiederholte, habe ich meinen Namen bekommen. Seit genau einem Jahr heiße ich jetzt Zwei.«
    » Du meinst, heute ist dein Geburtstag?«
    » So nennt ihr es hier, glaube ich.« Ich dachte an das Fest bei Justine und löffelte lustlos von der dünnen Suppe.
    » Das wusste ich ja gar nicht. Ich werde dir sofort eine Torte backen.« Oma Oaks beugte sich zu mir und küsste mich auf die Stirn.
    Ich konnte mich nicht erinnern, jemals von einer Frau geküsst worden zu sein, aber es war ein schönes Gefühl, und meine Schmerzen ließen gleich ein wenig nach. Um ihr einen Gefallen zu tun– und weil sie eine Torte für mich backen wollte–, nahm ich sogar einen Schluck von dem bitteren Tee. » Ist Bleich auch hier?«
    Falls nicht, würde ich ihn suchen gehen müssen, denn im Gegensatz zu Pirscher, Tegan und mir hatte er kein Zuhause mehr.
    Oma Oaks nickte. » Das Kämmerchen neben der Küche ist jetzt seins. Er wollte nichts davon hören, dich dort unterzubringen, obwohl er fast genauso schwer verletzt ist wie du. Du hast schrecklich viel Blut verloren, Liebes.«
    » Ist mir gar nicht aufgefallen.« Sie blickte mich verwirrt an, also erklärte ich es ihr: » Wenn ich kämpfe, wenn ich voll und ganz konzentriert bin, verschwindet alles um mich herum. Ich nehme nichts mehr wahr, nur meine Bewegungen, den Gegner, meinen nächsten Schlag. Ich spüre nicht einmal mehr…«
    » Schmerz?«, riet sie.
    » Manchmal, ja. Ich bin eins mit meinen Messern. Das ist das Beste, was man als Jägerin erreichen kann…«
    » Es ist mir egal, als was du diesen Zustand bezeichnest. Jedenfalls ist er der Grund, weshalb du jetzt im Bett liegst und auch dort bleiben wirst, bis deine Torte fertig ist und ich

Weitere Kostenlose Bücher