Die Zuflucht
dich nach unten rufe, verstanden?«
» Danke«, erwiderte ich. Trotz der verzweifelten Lage und meiner Trauer über Draufgängers Tod spürte ich einen Funken bittersüßer Freude in mir aufsteigen. Bleich wäre bestimmt froh, mich zu sehen. Zwei volle Tage war es jetzt her…
» Ich werde dir etwas Wasser bringen, damit du dich waschen kannst, und eine Salbe für deinen Sonnenbrand«, versprach Oma Oaks, bevor sie hinausging. » Aber steh ja nicht auf, bevor ich es dir sage.«
Gehorsam löffelte ich die Suppe aus, kaute den trockenen Toast und lauschte den Geräuschen aus der Küche, wo Edmund mit Oma Oaks sprach, während sie meine Torte vorbereitete. Keine Nachricht, nicht einmal ein Gruß von Bleich. Trotzdem war ich froh, dass die beiden ihn aufgenommen hatten, dass er hier war, in meiner Nähe…
Es dauerte nicht lange, bis mir langweilig wurde. Ich fühlte mich entsetzlich einsam. Dagegen würde nur eines helfen, also kletterte ich vorsichtig aus dem Bett und holte das Buch, das mich schon so oft in schweren Zeiten getröstet hatte: Tagjunge und Nachtmädchen . Ich hatte es Oben in den Ruinen gefunden, und ganz im Gegensatz zu dem, was wir in der Schule lasen, bedeutete mir die Geschichte etwas. Versonnen fuhr ich mit den Fingern über das Bild auf dem Einband. Inzwischen konnte ich auch die Buchstaben darauf lesen. Das Buch in den Händen zu halten war beinahe, als würde ich Bleich berühren. In Gedanken hörte ich seine Stimme, wie er das Ende der Geschichte vorlas, während wir in Draufgängers Wagen Richtung Erlösung fuhren, in ein neues Leben.
Ich beschloss, es mir laut vorzulesen, um noch einmal dieses Gefühl in mir wachzurufen. In der Schule war mir diese Aufgabe immer ein Gräuel gewesen, weil ich so langsam war, sogar noch langsamer als Pirscher. Ich betonte falsch, hatte keine Melodie, konnte die Worte nicht flüssig vortragen… Trotzdem, diesmal tat ich es für mich:
» Der König gab ihnen Wathos Schloss und Ländereien, und sie lebten zusammen und lernten voneinander viele Jahre lang, die wie im Flug vergingen. Und kaum war das erste vorüber, da liebte Nycteris schon am meisten den Tag, denn er war das Gewand und die Krone von Photogen, und sie sah, dass der Tag größer war als die Nacht und die Sonne herrschaftlicher als der Mond; und Photogen liebte am meisten die Nacht, denn sie war die Mutter und die Heimat von Nycteris.«
Die Zeilen klangen wie ein Versprechen. Aber Bleich war ein Kind der Zwischenwelt, er hatte Oben und Unten gelebt, also traf die Geschichte eher auf Pirscher und mich zu. Er war der Junge mit dem sonnenhellen Haar, der in der Tagwelt aufgewachsen war, und ich diejenige, die stets in der Dunkelheit gelebt hatte. Ich erschrak. Das Buch hatte seinen einstigen Zauber verloren. Es bot mir keinen Trost mehr, und ich stellte es zurück ins Regal.
Erschöpft von den wenigen Schritten, die ich gemacht hatte, legte ich mich wieder ins Bett. Anscheinend schlief ich dort sofort ein, denn Oma Oaks weckte mich mit den Worten: » Die Torte ist gleich fertig. Kommst du nach unten?«
» Mach ich.« Es dauerte länger, bis ich fertig war, als ich gedacht hatte, vor allem das Haarewaschen. Seit dem einen Tag Erholungsurlaub hatte ich nicht mehr gebadet, und ich wusste nicht einmal mehr, wie lange der schon zurücklag. Aber so konnte ich unmöglich nach unten gehen. Ich brauchte noch mehr Wasser, also ließ ich mir welches von Oma Oaks bringen.
» Mädchen, dein Kopf ist ja ganz nass. Du wirst dir noch eine schlimme Erkältung holen!«, rief sie.
» Mir fehlt nichts«, erwiderte ich und warf ihr einen irritierten Blick zu. Mir wäre lieber gewesen, sie hätte mir geholfen, statt mich zu ermahnen.
Oma Oaks schien meinen Gesichtsausdruck richtig zu interpretieren und spülte mein Haar, bis es sauber war. Dann ging sie noch einmal nach unten und kam mit einer Schale mit einer weißlichen Salbe darin zurück. » Das hier wird deinen Sonnenbrand ein bisschen lindern«, sagte sie und stellte die Schale auf meine Kommode. » Es hilft gegen die Schmerzen und die Rötung.«
» Danke. Ich werd mich damit einreiben, bevor ich nach unten komme.«
In der Tür blieb sie noch einmal stehen. » Rex und seine Frau waren letzte Woche zum Abendessen hier.«
» Tatsächlich?«
» Er sagte, du wärst bei ihm gewesen.«
» Ja, war ich. Ich dachte, nachdem er jetzt mein Stiefbruder ist, sollte ich ihn vielleicht kennenlernen.« Ich fragte mich, wie viel Rex ihr erzählt hatte, ob sie wusste,
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