Die Zuflucht
das Gleiche. Dann machten wir es uns mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Bett gemütlich und schauten einander an.
Ich war die Erste, die etwas sagte. » Wie geht’s deinem Bein?«
Tegan schob den Saum hoch und zeigte mir die Narbe. Hellviolett leuchtete sie auf ihrem Oberschenkel, und ich betrachtete neugierig die drei dunklen Punkte darunter.
» Sieht schon besser aus, findest du nicht?«, fragte sie.
» Was ist hier passiert?« Ich deutete auf die drei Flecken.
» Ich habe nicht mitbekommen, was Doc gemacht hat, weil ich immer noch so starkes Fieber hatte. Aber anscheinend musste er, nachdem er die Wunde gereinigt hatte, die Lymphflüssigkeit ablassen. Dazu hat er diese drei kleinen Schnitte gemacht.«
» Lymphflüssigkeit?«
» Sie hilft dem Körper, die Infektion zu bekämpfen.«
» Hat es sehr wehgetan?«
Tegan zuckte die Achseln. » Wahrscheinlich. Ich kann mich nicht an viel erinnern, außer dass du mich so oft besucht hast, wie du konntest.«
» Wie hat er das Fieber gelindert?«
» Er hat mir einen Tee aus Pfefferminze, Schafgarbe, Mutterkraut und Zitronenmelisse gemacht. Er schmeckte furchtbar.«
Was sie gerade aufgezählt hatte, mussten Pflanzennamen sein, überlegte ich. » Aber es hat geklappt.«
Tegan grinste. » Und wie. Doc war heilfroh, als es mir wieder so gut ging, dass ich mich über den Tee beschweren konnte.«
» Wie sprichst du deine Pflegeeltern eigentlich an?«, fragte ich mich laut.
» Nicht lachen. Ich sage Mama Jane und Papa Doc zu ihnen, wenn wir allein sind.«
Ich wusste, Tegan sprach nicht gerne über ihre Zeit bei den Wölfen, trotzdem wollte ich noch mehr über sie wissen. » Wie war eigentlich dein Leben davor?«
» Bevor… die Bande mich entführt hat?«
Ich nickte. » Ich kann mich nur an meine Zeugerin erinnern. Wer mein Zeuger war, weiß ich nicht, und ich habe mich gefragt, wie das wohl bei dir war?«
Tegan lehnte sich gegen die Wand in ihrem Rücken. Sie sah nachdenklich aus. » Als ich noch klein war, waren wir insgesamt zwanzig. Vier oder fünf Familien.«
» Habt ihr in den Ruinen gelebt?«
Sie fuhr sich übers Gesicht, als müsste sie Tränen zurückhalten, aber es kamen keine. » Auf dem Gelände der ehemaligen Universität. Es war schön zentral gelegen, und überall fanden wir Dinge, die wir gut gebrauchen konnten. Gleich davor war eine Wiese, auf der wir Gemüse anbauten. In einer Vorratskammer gab es jede Menge Samen.«
» Und die Banden haben euch in Ruhe gelassen?«
» Solange wir in der Überzahl waren, ja. Es war eine glückliche Zeit«, fügte sie leise hinzu. » Ich hatte Mutter und Vater, andere Kinder, mit denen ich spielen konnte.«
» Was habt ihr so gemacht den ganzen Tag?«
» Uns um die Pflanzen gekümmert, sie geerntet und gekocht. Die meiste Zeit war ich im Garten.«
» Dann warst du Pflanzerin.« Das erklärte, warum die Wölfe keine andere Verwendung für sie hatten, als Welpen mit ihr zu zeugen. Sie bauten nichts an. Um zu überleben, gingen sie auf die Jagd und sammelten, was sie zufällig fanden. » Warum meldest du dich nicht freiwillig zur Ernte? Ich wette, sie könnten dich auf den Feldern gut gebrauchen.«
Tegan überlegte. » Das könnte ich tatsächlich tun, wenn bei Doc nicht allzu viel los ist. Im Sommer sind meistens weniger Leute krank, sagt er.«
Wie das glückliche Leben in den Ruinen zu Ende gegangen war, wusste ich bereits. Die Leute wurden krank und starben einer nach dem anderen. Schließlich verlor sie ihren Vater und musste mit ihrer Mutter vor den Banden fliehen. Es brachte nichts, sie all das noch einmal durchleben zu lassen. Aber ich hatte noch eine andere Frage. » Wunderst du dich auch manchmal, warum manche Leute an einer Krankheit sterben und andere sich davon erholen?«
» Und ob«, antwortete sie prompt. » Und vor allem, warum manche erst gar nicht krank werden. Es muss irgendeinen Grund dafür geben, aber nicht einmal Doc kennt ihn.«
» Schade.«
» Es ist einer der Gründe, warum ich ihm so gerne bei der Arbeit helfe. Ich möchte verstehen, wie die Welt um mich herum funktioniert.«
» Ich hoffe, du findest es bald heraus.«
» Ich auch.«
Es schien mir an der Zeit, schlafen zu gehen. Ich drehte die Laterne herunter und schlüpfte unter die Decke. Tegan folgte mir, und wie ich versprochen hatte, hatten wir beide genug Platz. Für mich war es immer noch wie ein Wunder, einfach einzuschlafen und mich nicht einmal um das Frühstück für den nächsten Tag kümmern zu
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