Die Zuflucht
zu bedeuten?«
Da Bleich nicht darüber sprechen wollte, übernahm ich das Reden. » Er muss die Nacht über bei uns bleiben. Mr. Jensen hat gedroht, ihn auszupeitschen, und das nicht zum ersten Mal, glaube ich.«
Sie neigte ungläubig den Kopf, und ihre Lippen wurden zu einem dünnen weißen Strich. » Meinst du, nicht zum ersten Mal damit gedroht, oder dass er es bereits getan hat?«
Die Frage schien ihr wichtig zu sein. Nicht immer ließen Menschen ihren Worten Taten folgen, auch wenn Mr. Jensen mir nicht zu dieser Kategorie zu gehören schien.
» Heb dein Hemd«, sagte ich zu Bleich. Falls ich unrecht hatte, würde es sich gleich herausstellen. Der wütende Blick, den er mir daraufhin zuwarf, sagte mir, dass es stimmte.
Auf dem Bauch war nichts zu sehen. Dann drehte er sich um. Sein wunderschöner, muskulöser Rücken war überzogen mit den Spuren, die die Monate bei Mr. Jensen hinterlassen hatten. Rote Striemen spannten sich über die Haut, manche davon vernarbt, andere frisch verschorft, und darum herum sah ich grüne und blaue Blutergüsse. Sein Pflegevater musste ihn geschlagen haben, seit Bleich bei ihm eingezogen war. An Oma Oaks’ Gesicht erkannte ich, dass sie wünschte, sie hätte ihn hierbehalten, auch wenn es gegen die geltenden Anstandsregeln verstieß. Erlösung hatte Bleich bei Weitem nicht so liebevoll aufgenommen wie mich.
» Damit wird Arlo Jensen nicht ungeschoren davonkommen«, knurrte sie zornig. » Edmund!«
Bleich wollte seine Schande verbergen, und je mehr Zeugen es gab, desto schlimmer wurde es für ihn. Aber wenn wir nichts unternahmen, würde dieser widerliche Wurm für sein Verbrechen nicht mal bestraft werden.
Als Edmund die Narben sah, lief er feuerrot an.
» Ich werde mich sofort darum kümmern«, knurrte er mit geballten Fäusten und stapfte zur Tür hinaus.
Oma Oaks nahm Bleich sanft bei der Hand und führte ihn in die Küche. » Das Essen ist fast fertig, aber zuerst muss ich mich um deinen Rücken kümmern.«
Als sie Bleich bei der bloßen Vorstellung zusammenzucken sah, schien meine Pflegemutter sofort zu verstehen, dass er nicht leicht Vertrauen fasste. Sie holte das Verbandszeug und legte mir eine Hand auf die Schulter. » Ich gehe jetzt den Tisch decken. Vielleicht ist es besser, wenn du seine Wunden versorgst.«
» Was meinst du?«, fragte ich Bleich.
» Mir wär’s lieber, wenn du es machst.« Seine Stimme klang, als würde er es vorziehen, wenn wir ihn einfach in Ruhe ließen. Aber davon würden die Verletzungen nicht heilen.
» In Ordnung«, erwiderte ich. » Zieh dein Oberteil aus.«
Meine Hände zitterten leicht, als er sich vor mich setzte. Salbe auf Kampfwunden zu schmieren machte mir nichts aus, aber das hier war etwas anderes. Ein Mensch hatte sie ihm zugefügt und kein Freak. Ein Mensch, der weder verrückt noch krank war– oder was immer die Freaks zu dem gemacht hatte, was sie waren.
Ich wusch mir die Hände in Seifenwasser und befeuchtete ein Handtuch. Bleich vertraute mir, und ich wollte ihm auf keinen Fall wehtun. Ich wünschte nur, er hätte mir früher davon erzählt. Andererseits, wann hätte er es tun sollen? Wir hatten so lange kein Wort mehr miteinander gesprochen. Tegan hätte ihm helfen können, selbst Pirscher. Bleich hatte keinen Grund, Jensens Misshandlungen einfach so hinzunehmen.
So vorsichtig es ging, wusch ich seinen Rücken und hörte jedes Mal auf, wenn er vor Schmerz das Gesicht verzerrte. Mit gebeugtem Haupt saß er da und hielt so fest die Tischkante umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß wurden. Sein ganzer Körper bebte, ob vor Schmerz oder Schmach, konnte ich nicht sagen, und ich fragte mich, was wohl gerade in ihm vorging.
» Du hast es gleich hinter dir«, flüsterte ich und verteilte behutsam etwas Salbe auf den Striemen. Mit so wenig Druck wie möglich rieb ich sie in die offenen Stellen und auf jeden Bluterguss. Als ich damit fertig war, wäre ich am liebsten sofort zu Arlo Jensen hinübergelaufen und hätte ihn mit meinen Messern zu Freak-Köder verarbeitet. Schon die bloße Vorstellung war eine Erleichterung. Aber wenigstens schien sich keine der Wunden entzündet zu haben, und sie hatten sich alle vollständig mit Schorf geschlossen, also konnte ich auf einen Verband verzichten.
» Fertig?« Noch bevor ich antworten konnte, stand er auf und streifte sich das Hemd über. Er vermied jeden Blickkontakt, als hätte ich ihn verraten.
» Bist du wütend auf mich?«
» Nicht auf dich.«
Ich glaubte ihm
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