Die Zuflucht
wickelte etwas aus einem leicht vergilbten Stück Stoff. Sie hielt eine silberne Kette in der Hand. Die Kette war unglaublich fein gearbeitet, und der kleine blaue Stein an dem Anhänger funkelte wie ein Stern. » Ich möchte, dass du die heute Abend trägst. Sie passt so wundervoll zu deinem Kleid.«
Ich erstarrte und wagte kaum, die Kette anzufassen. Den einzigen Gegenstand, den ich von meiner Züchterin besessen hatte, hatte ich eintauschen müssen, damit uns die Tunnelbewohner passieren ließen. Ich wünschte mir immer noch, ich hätte die kleine Schatulle mit dem winzigen Spiegel im Deckel behalten können.
» Die ist zu wertvoll«, protestierte ich.
» Aber für dein erstes Rendezvous brauchst du etwas Besonderes.«
Rendezvous. Wieder ein neues Wort. Klang, als könnte es etwas mit küssen zu tun haben. Spaß machen würde es auf jeden Fall– wenn ich bedachte, was wir danach vorhatten. Ich fragte nicht nach.
Oma Oaks hängte mir das Kettchen um, ohne auf weitere Einwände zu warten. Es sah so wunderbar aus, dass ich es nicht übers Herz brachte, Nein zu sagen. Ich hatte noch nie etwas am Körper getragen, das nicht irgendeinem Zweck diente, aber der Schmuck glitzerte so wunderschön. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Glitzersachen gehabt, und seit unserer Flucht aus der Enklave hatte ich nichts mehr besessen außer meiner Kleidung und meinen Messern. Natürlich gehörte mir das Kettchen nicht. Ich hatte durchaus begriffen, dass es nur geliehen war, nicht geschenkt.
Oma Oaks ließ mich allein, damit ich mich fertig machen konnte. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen, so glücklich war sie, dass ich die Kette trug. Ich streifte das blaue Kleid über, fuhr ehrfürchtig über den weichen Stoff und bewunderte den perfekten Schnitt. Es hing bis zu meinen Fußknöcheln und wurde nach unten hin breiter, wie eine Glocke. Der obere Teil war schlicht gehalten, hatte nur einen herzförmigen Ausschnitt und kurze Ärmelchen, die gerade über meine Schultern reichten. Meine Pflegemutter war im Schneidern ebenso begabt wie Edmund im Schuhemachen. Heute Abend würde ich meine Narben mit Stolz tragen.
Ich lief die Treppe hinunter und sah Bleich, der neben Edmund schon auf mich wartete. Seine dunklen Augen weiteten sich, und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, war er sprachlos. Er starrte mich nur an, als wäre ich die Verkörperung von allem, was er sich je gewünscht hatte, und mein Herz machte einen Sprung. Gleichzeitig war es auch ein wenig beängstigend, ihn so von meinem Anblick gefesselt zu sehen, so viel Macht über ihn zu haben. Ich schob das Gefühl beiseite und trat auf ihn zu.
Edmund räusperte sich. » Bildhübsch, nicht?«
Bleich nickte nur stumm. Sein hungriger Blick trieb mir die Röte auf die Wangen, und als er mit den Fingern die Narben auf meinen Armen berührte, spürte ich seine Wärme wie einen Glutofen. Es war nur mein Arm, den er berührte, und trotzdem schien mir die Geste viel zu gewagt vor den Augen meiner Pflegeeltern.
Oma Oaks plapperte begeistert von irgendetwas, aber ich hörte sie kaum. Wir winkten nur zum Abschied, während Edmund uns in etwas ernsterem Ton verabschiedete, und gingen nach draußen in die von fröhlicher Musik erfüllte Nacht.
» Am liebsten würde ich dich entführen und vor allen verstecken«, flüsterte Bleich.
» Warum?«
» Ich habe schon immer gewusst, wie schön du bist, aber gleich wissen es alle anderen auch. Ich werde sie kaum zurückhalten können, und das bringt mich fast um den Verstand.«
Ich lachte. Wahrscheinlich wollte er mir nur die Unsicherheit nehmen wegen des ungewohnten Kleides und meiner Frisur, die mich bei jedem Schritt am Rücken kitzelte. Er ließ seine Hand auf meinem Arm, als fürchtete er, jemand könnte mich ihm stehlen. Funken sprangen zwischen uns hin und her, heller als die Lampions auf der Festwiese.
Kurz bevor wir die Tanzfläche erreichten, zog er mich in den Schatten unter einem Baum. » Ein Kuss noch, bevor ich dich mit den anderen teilen muss.«
Ich wusste kaum, wie mir geschah, denn Zwei, das Mädchen, bestimmte, was ich tat. Die Jägerin schaute beschämt zu. Ich legte den Kopf in den Nacken, und seine Lippen berührten die meinen, sanft wie eine Feder, wieder und wieder. Zuerst war es nur ein Necken, aber als ich es nicht mehr aushielt, nahm ich seinen Kopf zwischen die Hände, und die Küsse sprangen zwischen uns hin und her wie Blitze in eine Gewitterwolke, tiefer und intensiver als je zuvor. Als ich seine
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