Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
Vom Netzwerk:
jemandem, aus dessen Mund ich sie am wenigsten erwartet hätte: Gary Miles. Wir waren schon zweimal aneinandergeraten– einmal, als er mich beleidigt hatte, und das andere Mal, als er während seiner Wachschicht eingeschlafen war–, und seitdem war er mir aus dem Weg gegangen. Mit der langen spitzen Nase und dem so gut wie nicht vorhandenen Kinn sah sein Gesicht aus wie das einer Ratte. Graues Haar hing ihm in dünnen Strähnen bis auf die Schultern, und er stank wie ein Eimer Erbrochenes. Wegen der mangelnden Waschmöglichkeiten rochen wir alle nicht besonders gut, aber Miles schien sich nicht einmal notdürftig mit Wasser abzuspritzen. Ich wollte nicht, dass er sich zu uns setzte, sah aber keine Möglichkeit, es zu verhindern, ohne unhöflich zu erscheinen. Also sagte ich: » Setz dich.«
    Â» Worüber sprecht ihr gerade?«, fragte er, nachdem er es sich bequem gemacht hatte. Er lächelte, und ich sah seine fleckigen Zähne. Einige waren schwarz verfärbt, manche ganz abgebrochen. Es hatte keinen Zweck, es zu leugnen: Der Mann verursachte mir eine Gänsehaut. Es war fast genauso schlimm wie damals, als ich zum ersten Mal im Leben einen Freak sah.
    Â» Darüber, was wir tun, wenn wir in der Stadt sind«, antwortete Frank.
    Miles presste die Lippen zu einem schmalen weißen Strich zusammen, aber der verbitterte Ausdruck verschwand sofort wieder von seinem Gesicht, wurde von gespielter Freundlichkeit verdrängt. » Was für ein glücklicher Zufall, dass ausgerechnet du schon so bald an der Reihe bist.«
    Â» Draufgänger hat die Reihenfolge ausgelost«, entgegnete ich.
    Das heuchlerische Lächeln verschwand. » Du hast ihn ja auch gehörig um den Finger gewickelt, Kätzchen. Alter schützt vor Torheit nicht, wie wir alle wissen. Wir alle haben gesehen, wie du bei ihm gestanden bist und ihm schöne Augen gemacht hast, während wir uns den Arsch aufgerissen haben, um Kampftechniken zu erlernen, die wir nie brauchen werden.«
    Glaubte er tatsächlich, ich würde mir eine Sonderbehandlung erschleichen, indem ich mich mit unserem Kommandanten fortpflanzte? Eine widerwärtige Vorstellung– nicht weil Draufgänger alt und unansehnlich war, sondern weil er niemals etwas dergleichen tun würde. Ich warf Miles einen offen feindseligen Blick zu. Seine Gedanken waren genauso schmutzig wie die Latrine, die er heute Morgen ausgehoben hatte.
    Frank schien zu demselben Schluss zu kommen und schüttelte den Kopf. » Du redest Unsinn.«
    Â» Dieser ganze Vorposten war ihre Idee, und jetzt stolziert sie herum, als wäre sie hier die Königin.« Er legte mir seine dreckige Hand auf den Oberschenkel. » Ist doch nur fair, wenn sie sich mir ein bisschen erkenntlich zeigt.«
    Mit der linken Hand riss ich meinen Dolch aus der Scheide und hielt ihm die Spitze zwischen die Oberschenkel.
    Miles wurde blass. Sein Kehlkopf hüpfte nervös auf und ab.
    Frank sah aus, als wollte er eingreifen, aber er wagte es nicht, und das war auch gut so. Wenn er mich berührt hätte, hätte ich einen der beiden kastriert.
    Â» Lass mich in Ruhe«, fauchte ich Miles an. » Wenn ich nicht so viel Respekt vor Draufgänger hätte, würde ich dich umbringen. Wenn du mich aber noch einmal belästigst, werd ich es tun. Verlass dich drauf.«
    Ich steckte das Messer wieder weg, und Miles stand zitternd auf. » Das hier ist noch nicht vorbei.«
    Â» Doch, ist es.« Ich gab Miles nicht die Genugtuung, ihm auch noch hinterherzuschauen, als er sich entfernte. Er war es nicht wert.
    Â» Warum ist er so wütend auf dich?«, fragte Frank.
    Â» Manche Menschen brauchen eben jemanden, dem sie die Schuld für ihr eigenes Unglück geben können.« Aber bei Miles war es nicht nur das. Wahrscheinlich gehörte er zu der Sorte Männer, die es nicht ertrug, wenn Frauen noch etwas anderes taten, als ihm Essen zu kochen und die Beine für ihn breit zu machen. Falls er eine Frau hatte, tat sie mir leid.
    Bleich legte mir eine Hand auf die Schulter und setzte sich neben mich. Es war beinahe komisch, wie Frank plötzlich aufsprang und sich davonmachte. Anscheinend hatte Bleichs Beschützerinstinkt Eindruck hinterlassen. Er schien traurig zu sein, dass er nicht dabei gewesen war, um Miles in die Schranken zu weisen.
    Â» Mach dir keine Sorgen«, sagte ich. » Ich komm schon mit ihm zurecht.«
    Â» Er wird dir weiter

Weitere Kostenlose Bücher