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Die Zuflucht

Die Zuflucht

Titel: Die Zuflucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ann Aguirre
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überlegte, was ich tun sollte. Schließlich beschloss ich, es zu riskieren, und wiederholte, was Bleich zu Edmund gesagt hatte. » Was bedeutet ›Absichten‹ in diesem Zusammenhang?«
    Â» Das hat er gesagt?« Sie fasste sich gerührt ans Herz. » Es bedeutet, dass er es ernst meint. Wenn ein Junge zu dem Vater eines Mädchens geht, erweist er damit seinen Respekt und schwört, dass er nicht nur mit ihr spielt. Er wurde gut erzogen, dein Bleich.«
    Â» Das heißt, er hat nicht vor, sich unautorisiert mit mir fortzupflanzen?«
    Â» Gott im Himmel, wie du redest.« Oma Oaks wurde rot.
    Bleich kam aus der Küche, frisch gebadet und sauber gekleidet. Der Anblick verschlug mir den Atem, aber ich hatte ihn kaum gesehen, da scheuchte Oma Oaks mich schon in die Küche. Ob es nun Zufall war oder Absicht, jedenfalls sorgte sie dafür, dass wir bis Einbruch der Dunkelheit nicht einen Moment mehr allein waren.
    Â» Wo ist Bleich?«, fragte ich, während Oma Oaks meine Frisur zurechtmachte.
    Sie zuckte die Achseln. » Er hat zu Edmund gesagt, er müsste etwas erledigen.«
    Interessant .
    Wie beim letzten Mal wickelte sie nasse Tücher in meine Haare, und als sie sie wieder herausnahm, steckte sie einen Teil der Locken oben mit einer Spange zusammen und ließ die restlichen wie Girlanden hinab auf meine Schultern fallen. Der einzige Unterschied war, dass sie mein Haar nicht mehr ganz so hoch auftürmte, und das gefiel mir sehr viel besser. Die ganze Zeit über beobachtete ich sie im Spiegel und fragte mich, wer das Mädchen war, das ich dort sah. In der Enklave war mir mein Aussehen immer egal gewesen. Das Einzige, was dort zählte, war Hygiene.
    Â» Das hier hat einmal meiner Mutter gehört«, sagte sie und wickelte etwas aus einem leicht vergilbten Stück Stoff. Sie hielt eine silberne Kette in der Hand. Die Kette war unglaublich fein gearbeitet, und der kleine blaue Stein an dem Anhänger funkelte wie ein Stern. » Ich möchte, dass du die heute Abend trägst. Sie passt so wundervoll zu deinem Kleid.«
    Ich erstarrte und wagte kaum, die Kette anzufassen. Den einzigen Gegenstand, den ich von meiner Züchterin besessen hatte, hatte ich eintauschen müssen, damit uns die Tunnelbewohner passieren ließen. Ich wünschte mir immer noch, ich hätte die kleine Schatulle mit dem winzigen Spiegel im Deckel behalten können.
    Â» Die ist zu wertvoll«, protestierte ich.
    Â» Aber für dein erstes Rendezvous brauchst du etwas Besonderes.«
    Rendezvous. Wieder ein neues Wort. Klang, als könnte es etwas mit küssen zu tun haben. Spaß machen würde es auf jeden Fall– wenn ich bedachte, was wir danach vorhatten. Ich fragte nicht nach.
    Oma Oaks hängte mir das Kettchen um, ohne auf weitere Einwände zu warten. Es sah so wunderbar aus, dass ich es nicht übers Herz brachte, Nein zu sagen. Ich hatte noch nie etwas am Körper getragen, das nicht irgendeinem Zweck diente, aber der Schmuck glitzerte so wunderschön. Ich hatte schon immer eine Schwäche für Glitzersachen gehabt, und seit unserer Flucht aus der Enklave hatte ich nichts mehr besessen außer meiner Kleidung und meinen Messern. Natürlich gehörte mir das Kettchen nicht. Ich hatte durchaus begriffen, dass es nur geliehen war, nicht geschenkt.
    Oma Oaks ließ mich allein, damit ich mich fertig machen konnte. Sie strahlte von einem Ohr zum anderen, so glücklich war sie, dass ich die Kette trug. Ich streifte das blaue Kleid über, fuhr ehrfürchtig über den weichen Stoff und bewunderte den perfekten Schnitt. Es hing bis zu meinen Fußknöcheln und wurde nach unten hin breiter, wie eine Glocke. Der obere Teil war schlicht gehalten, hatte nur einen herzförmigen Ausschnitt und kurze Ärmelchen, die gerade über meine Schultern reichten. Meine Pflegemutter war im Schneidern ebenso begabt wie Edmund im Schuhemachen. Heute Abend würde ich meine Narben mit Stolz tragen.
    Ich lief die Treppe hinunter und sah Bleich, der neben Edmund schon auf mich wartete. Seine dunklen Augen weiteten sich, und zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, war er sprachlos. Er starrte mich nur an, als wäre ich die Verkörperung von allem, was er sich je gewünscht hatte, und mein Herz machte einen Sprung. Gleichzeitig war es auch ein wenig beängstigend, ihn so von meinem Anblick gefesselt zu sehen, so viel Macht über ihn zu haben. Ich schob das

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