Die Zukunft des Mars (German Edition)
es beruhigt sie, zu erkennen, wonach das Buch riecht. Gleich mit dem ersten Aufziehen der Ladentür stach Elussa in die Nase, wie stark und eigen dieser Duft ist. Die herben, fast bitteren Aromen drangen über Nase und Mund in den Rachenraum, ja bis in den Hals hinunter, während ihr Spirthoffer die langen Finger zum allerersten Handschlag entgegenstreckte und seinen hageren Rumpf, begleitet von einem greisenhaften Ächzen, nach vorne knickte. Und jetzt behauptet ihr Erinnern in trügerischer Deutlichkeit, bereits am Tag zuvor, als seine Stimme, sehr höflich und doch zwingend, aus dem Hörer ihres Don-Phons tönte, hätte es plötzlich in ihrer Küche heftig nach einer ihr bislang unbekannten Gewürzmischung gerochen. Eigentlich verabscheut es Elussa, wenn Männer aus Mund oder Kehle riechen. Alides blauäugiger Vater hätte nie Gelegenheit bekommen, ein Töchterchen zu zeugen, wäre sein Atem nichtzu jeder Stunde des Tages, der Nacht und selbst noch im grauen Morgendämmer unheimlich rein, fast aseptisch leer gewesen.
Während des ersten Unterrichts hatte Elussa dann für sich entschieden, dass Spirthoffers Altmännerschnaufen einfach bloß wie sein Laden rieche. Die ölige Abluft seines Ofens ging mit dem Harzgeruch der rohen Holzregale, den Ausdünstungen der alten Apparate und dem Mief von feucht gewordenen Broschüren eben zur besonderen Atmosphäre des Elektronischen Hospitals zusammen, und in Spirthoffers Lungengrund hatte sich schlicht ein Konzentrat hiervon gesammelt. Mit dieser Erklärung war sogleich Erleichterung verbunden. Die alten Männer riechen nach Moos und Salz, so sagt man in Sibirien. Die ganze Adventszeit lang hat sich Elussa, fromm selbstbetrügerisch, in Sicherheit gewiegt.
Womöglich ist Weihnachten bereits vorbei. Das Riesenbuch vor ihrer Brust fühlt sich so an. Gemeinsam scheinen sie beide schon jenseits des Heiligen Abends angekommen, als hätten sie diesen, in rasend stillem Schweben, wie eine bloße Lichtmarkierung, wie eine Boje auf schwarzem Wasser, passiert und hinter sich gelassen. Aber falls Weihnachten vorüber ist, müsste sie sich als Mutter doch an Alides Freude erinnern, an ihre Überraschungsjuchzer und an all das, was ihr Töchterchen, das unerwartet großartige Geschenk in Händen, ganz wie es ihre Art ist, glücklich und dankbar herausgeplappert hat. Spirthoffer, der liebe Opa Spirthoffer, so war sein Name von Alide keck erweitert worden, hatte Elussa am Vorabend des letzten Unterrichts deswegen angerufen. Es habe geklappt: Einer der Söhne seines Nachbarn, ein helles Köpfchen und eine prima Spürnase dazu, habe das Gesuchte, wie erhofft, drüben, im Territorium des Alten Ogo, ausfindig gemacht. Dort gebe es den einzigen, den letzten oder, besser gesagt, den erneut ersten fachkundigen Brillen- und Linsenhändler der dreigeteiltenStadt. Gegen fünf Säckchen der Blütenmischung, deren Aufguss ihm, ihr und ihrem Töchterchen gleichermaßen schmecke, habe der Optiker das rare Einzelstück seines Sortiments herausgerückt. Schon gestern Abend sei das Weihnachtsgeschenk für Alide, verborgen in einer Karre Zuckerrüben, durch die Grenzkontrollen beider Machthaber geschmuggelt worden.
Frisch poliert liege es vor ihm auf dem Tisch. Schade, dass der Bildschirm ihres Don-Phons defekt sei. Sie solle es demnächst in den Unterricht mitbringen. Ja, er habe das fragliche Instrument bereits geprüft. Es sei in bester Ordnung. Der Bescherung stehe nichts mehr im Wege. Alide werde entzückt sein. Er wolle bis morgen noch eine kleine Anleitung verfassen. In seinem besten Deutsch. Und zwar handschriftlich. Er habe sich klammheimlich, ihr und ihrem blinden Telefon könne er dies, errötend wie ein Knabe, eingestehen, dazu durchgerungen, das Schreiben mit der Hand, das er im Unterricht so schnöd verweigert hatte, nach jahre-, ja jahrzehntelanger Abstinenz erneut zu üben. Und wirklich: jeden Abend, jede Nacht sei sein Gekrakel ein Quäntchen lesbarer geworden. Inzwischen hätten fast alle Buchstaben die alte Spannkraft, ihre spitze Höhe oder dralle Rundlichkeit zurückgewonnen. Und für Alidchen wolle er sich heute Nacht sogar um das bemühen, was in seiner Kindheit Schönschrift hieß.
Im letzten Unterricht vor Weihnachten war ihr der Blütensud ein bisschen röter als sonst erschienen, zudem schmeckte er süßer. Alide hatte so laut am Tassenrand geschlürft, dass Elussa sie ermahnte, doch zu warten, bis der Tee nicht mehr so heiß sei. Spirthoffer bat sie, nicht allzu streng zu
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