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Die Zunge Europas

Die Zunge Europas

Titel: Die Zunge Europas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Strunk
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Zeitgeist und meiner Art von Komik möglich sei. Die Menschen entwickeln sich ja schließlich weiter, irgendwie jedenfalls. Bis dahin hieß es: Gags under pressure, Gags in progress. Ausharren und auf Halde arbeiten. Wenn meine Zeit gekommen war, würde ich eine Karte nach der anderen aus dem Ärmel schütteln können. EINE NACH DER ANDEREN!
    Das konnte jedoch noch dauern, denn die Humorlandschaft veränderte sich dramatisch, und zwar in genau eine Richtung: zum Schlechten.
    Politisches Kabarett, Parodie, Humor, Komik, Witz, Ironie, Satire, Persiflage, Polemik, Kalauer, Pointe, Schote, Zote und was es sonst noch alles gab, wurde auf den kleinsten Nenner vom kleinsten gemeinsamen Nenner vom kleinsten gemeinsamen Nenner und davon nochmal dem kleinsten gemeinsamen Nenner runtergedampft. Und der hieß Comedy. In industrieller Massenfertigung produzierter Humor, rücksichtslos entkernt von Drama, Tragik, Weltanschauung, Überzeugung, Nuancen, Brüchen, Differenzen, also all dem, was Komik ausmacht. Selbst wenn mal eine gute Idee,
Substanz
, zugrunde lag, wurde die von unzähligen vor-, zwischen- und nachgeschalteten Filtern und Dämpfern verdünnt, gesiebt, gespült, bis nur noch formloser Ramsch übrig blieb. Ramsch ohne Leuchten, ohne Hintergrundstrahlung, groteske Intonationsverfehlung. Die Woche verkam zu einer ununterscheidbaren Abfolge von Fun-Freitagen, und die Sendeplätze von der Primetime bis zur Peripherie wurden mit immer neuen ununterscheidbaren Formaten verstopft, die sich in ihrer Dämlichkeit gegenseitig übertrafen: Sketchcomedy, Standup Comedy, Comedynews, Panelshows, Improcomedy. In einer beispiellosen Gleichschaltung errichtete der Gagmilitarismus noch im entlegensten Winkel der Republik dieselben Muster des Bewusstseins. Und das System duldete keine Ausnahmen.
    Frauen mit Schuh- und Kleidungsticks, Ikeagags (Bett «Gutfick», haha), Männer, die auf die Urlaubsreise nureine Unterhose mitnehmen («Meine Frau merkt das sowieso nicht, haha»), 90   Prozent der jährlichen Tomatensaftproduktion werden in Flugzeugen konsumiert (immer Riesenlacher, keiner weiß genau, warum), das unerschöpfliche Thema «Servicewüste Deutschland». Was bitte schön soll daran komisch sein?
    Einher mit der Formatierung des Inhalts ging die Formatierung des Personals. Grundvoraussetzungen für einen Comedian: Ehrgeiz, Dickfelligkeit und sich für nichts, aber auch gar nichts zu schämen. Würde und Selbstachtung sollten möglichst keine Rolle spielen, man muss bereit sein, ALLES mit sich machen zu lassen. (Das Handwerk lässt sich fix in einem dreitägigen Crashkurs an einer
Gag-
Akademie erlernen.) Wichtigste Voraussetzung, hätte ich fast vergessen: Humorlosigkeit. Dann leidet man wenigstens nicht unter der Scheiße.
    Comedycast: Unter keinen Umständen fehlen darf der Kleine, der bucklige Troll, das Greislein mit dem öden Frätzchen, eine Mischung aus vorlautem, besserwisserischem kleinem Bruder, Klassenkasper und ätzendem Gnom, der sein Publikum mit geschlechtslosen Verrenkungen, sinnlosen Zappeleien und hysterischem Stimmenverstellen traktiert. Ihm zur Seite gestellt ist ein jäh und krumm in die Höhe geschossener, schlaksig-dürrer Eumel mit unterschiedlich hoch hängenden Klüten und Trichterbrust. Die Macher achten darauf, dass auf zwei Gnome in der Regel ein Eumel kommt. Dicke haben als Comedians besonders gute Chancen, wenn sie mit möglichst vielen Zusatzdefekten ausgestattet sind: Zyklopen mit Eier- oder Wasserköpfen, aufgequollene Knallfrösche,mehrfach geblähte Michelin-Männchen, aufgedunsen durch Hektoliter Kölsch und chronische Ausdruckverstopfung. Wie viele neue Comedians wohl jedes Jahr an den Start gehen? Hundert, zweihundert, fünfhundert? Als in der Goldgräberstimmung der neunziger Jahre New Economy, Popliteratur, deutschsprachiger Hiphop und eben auch Comedy boomten, entdeckten Heerscharen von Studienabbrechern, arbeitslosen Schauspielern, Karrieristen, Amateurspaßvögeln und Schonimmermalmöchtegern-egalichmachallesstars diese vielversprechende Geschäftsidee. Denn zu nichts anderem war Humor geworden. Zu einer Geschäftsidee. Nicht einmal in Bankerkreisen wird so beschämend oft übers Geld geredet wie unter Comedians. Typischer Backstagedialog einer Mixveranstaltung (mehrere Comedians treten nacheinander auf ):
    «Na, wie geht’s?»
    «Ich verdien mir grad derart den Arsch ab, das kannst du dir nicht vorstellen!»
    Unter Comedians herrscht ein Klima von Neid und Missgunst. Wenn beim

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