Die Zunge Europas
nochmal spindeldürrer geworden, obwohl das eigentlich gar nicht geht. Da können die englischen Gitarrenbands schrammeln und schrappeln und fasten, soviel sie wollen, die künstlich ausgemergelten Zwergenkörper von Jagger/Richards kriegen sie nie hingehungert.
Werbebreak. Schnitt: Da Sonja und ich zu dick zum Stehen sind, werden wir von einem Hubschrauber in einer Schleifkorbtrage (schon wieder) in eine Position knapp über der Bühne herabgelassen, von wo aus wir das Konzert
hautnah pur
miterleben können. Wir sind begeistert und singen mit und alles. Schnitt. Das Konzert geht leider viel zu schnell vorüber. Als letzte Zugabe bringen die Steine wie immer ihren größten Hit «Satisfaction». Mit Sonja und mir gehen langsam, aber sicher die Pferde durch. Wir toben, klatschen und schunkeln. Die Trage wippt bedrohlich hin und her und auf und ab. In der Abwärtsbewegung berührt sie fast die Bühne und zwingt Mick Jagger zu waghalsigen Duck- und Wendemanövern. Der Rockgott kocht vor Wut, lässt sich aber nichts anmerken. Er wird RTL mit Regressforderungenüberziehen, von denen sich der Quatschsender nie mehr erholen wird! Nahaufnahme: Die Bolzen, mit denen die Trage am Hubschrauber befestigt ist, quietschen und ächzen. «And I try, I try, I try, and I try». Haarrisse! Materialermüdung! «I can’t get no … satisfaction». Charlie W. setzt zum finalen Wirbel an, da passiert’s: Die Bolzen brechen mit einem entsetzlichen Knirschen aus der Verankerung, Sonja und ich plumpsen wie überreife Pflaumen herunter und begraben die papierdünnen Masterminds unter uns. Das war’s dann mit den Stones, das traurige Ende einer legendären Formation. Wir dagegen bleiben wie durch ein Wunder unverletzt und werden wg. Rache an einen geheimen Ort geschafft. RTL muss nach weltweiten Fanprotesten und einem Machtwort des U S-Präsidenten den Sendebetrieb einstellen.
Punkt zwölf.
RTL-«Mittagsjournal». Ich konnte nicht mehr. Ich konnte einfach kein Fernsehen mehr gucken. Es war unerträglich heiß. Ventilatoren waren seit Wochen überall ausverkauft. Was nun? Mir fiel nichts ein. Warum auch, den Tag gab es ja offiziell gar nicht. Egal, irgendwas musste ich tun. Da weitermachen, wo ich vorhin aufgehört hatte: Standards, Routinetätigkeiten, Besorgungen, Sachen erledigen, die sonst immer liegenbleiben.
Nach Würmern graben. Graffiti überstreichen.
Nicht schon wieder! Schluss jetzt! Geordnete Verhältnisse sind Voraussetzung für geordnete Gedanken und eine erfolgreiche Lebensführung.
Wie sah es eigentlich im Schlafzimmer aus? Es ist mit knapp zehn Quadratmetern der kleinste Raum der Wohnung. Oberflächlich betrachtet ganz manierlich. KeineKleiderberge, keine herumliegenden Bücher, keine leeren Flaschen oder gar
Taschentücher.
Lediglich eine einzelne Socke hatte sich ans Fußende des Bettes verirrt. Ich hob sie auf. Wo kam die denn jetzt her? Wo eine Socke war, musste auch eine zweite sein. Ich schlug die Decke zurück. Nichts. Unterm Kissen auch nichts. Vielleicht hinter dem Fernseher oder unterm Bett. Ich hatte eine Taschenlampe, legte mich auf den Boden und leuchtete alles ab. Nichts. Dann hob ich die Matratze an, und als ich dort auch nicht fündig wurde, rückte ich das Bett ab. Vielleicht hatte sie sich irgendwo verfangen. Komisch. Das war ja komisch. Ich roch an der Socke, um herauszufinden, ob sie noch sauber war oder in die Schmutzwäsche gehörte. Dazu braucht es eine echte Hundenase. Langes Liegen neutralisiert schlechten Geruch. Ich befühlte den Söckling (haptischer Test), schmutzigen Sachen mangelt es nämlich gemeinhin an Spannkraft. Schwer, was zu sagen, ganz schwer, was zu sagen. Ich ließ sie fallen und ging wieder ins Wohnzimmer. Toter Tag hin, nicht vorhandener Tag her, so ging es nicht weiter. Mit jeder weiteren sinnlos vor dem Fernseher verbrachten Minute würde ich einen Monat früher sterben müssen.
Arbeitsvorbereitung bedeutet für mich in erster Linie
Chinakladde.
So nennt man meines Wissens Schreibhefte mit festem Einband, wenn nicht, egal, für mich heißen sie so. Ich arbeite vom Ding her analog/digital. Erst fülle ich eine Kladde mit Bleier und Ratzefummel, dann übertrage ich die Ergebnisse in einem zweiten Arbeitsschritt in den Computer. Danach folgen die Überarbeitungen: aussieben,streichen, komprimieren, kürzen, runterdampfen, runterdampfen, noch weiter runterdampfen. Nun aber los. Neue Kladde, neues Glück. Es war genau vier Minuten nach zwölf. Ich stellte den
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