Die Zunge Europas
Visage eines Topmodels als Wichsvorlage. Das Deformierte, Fehlerhafte, nicht Passgenaue, das schaurig Schöne erzeugt doch erst den erotischen Reiz. Über diesen geilen Gedanken schlief ich ein.
Nachdem ich gegen neun wieder erwacht war, ging ich zum Fenster. Alles wie immer: Die Sonne stand schon so hoch, als wolle sie jetzt nie mehr untergehen, sich niemals wieder der Nacht geschlagen geben. Der Sommer setzte sich selbst ein Denkmal, brannte sich als böser Traum ins Kollektivgedächtnis ein.
Auf dem Bürgersteig trabten ein Mann und eine Frau Richtung Stadtpark, ich nahm jedenfalls an, dass sie zum Stadtpark wollten. Sie trugen hellblaue Turnhosen, Kapuzenshirts in der gleichen Farbe und Pulsmessgeräte. Partnerlook. Auch als Paar Partner, Paar und Partner. Jeden Morgen schlüpfen sie, ohne zu lamentieren, in ihre Sportschuhe und traben mit undurchdringlicher, humorfreier Vitalität los. Ich konnte hören, dass sie plauderten.Wahrscheinlich unterhielten sie sich nur, um zu diskutieren, ob sie sich im aeroben oder im anaeroben Bereich bewegten, faules Fett verbrannten oder fleißige Muskeln. Pulsmessgerät & Gespräche, doppelt hält besser. Kontrollfreaks, allerdings keine, die nächtens gegen Türen rennen und in ihrer Wohnung Prüfprotokolle aufhängen. Die haben in der Küche lediglich eine Korkwand mit gelben Merkzetteln, auf denen wichtige Termine, Telefonnummern und noch zu erledigende Erledigungen (Biozwergtomaten) gepinnt sind. Ab und an auch mal «Ich liebe dich, Bärchen» oder so was. Die Frau findet sonst noch Bruce Willis sexy, behält das jedoch für sich. Die saufen schon deshalb nicht, weil ihre sensiblen Hochleistungskörper auf jede Störung des Gleichgewichts mit Fieber und Migräne, Durchfall und Krämpfen reagieren. Einmal die Woche ist Bodycheck mit der Profikörperfettanteildigitalwaage. Der Partner schaut zu, damit nicht beschissen wird, aber würden sie eh nicht tun, denn wer sich selbst bescheißt, bescheißt das Leben, und das Leben kann man nicht bescheißen, das haben schon ganz andere versucht. Man kann’s gar nicht oft genug wiederholen! Wenn sich auf einer Party jemand eine Zigarette ansteckt, sagen die: «Zum Rauchen kann man nach draußen gehen, aber zum Atmen nicht.»
Jaja, dachte ich, mach dich nur immer schön über andere Menschen lustig. Gönn denen doch, dass sie sich wohl fühlen, die haben sich ihre gute Laune durch disziplinierte Lebensführung schließlich hart erarbeitet. Es war nämlich in Wahrheit ganz einfach: Die fühlten sich gut, weil sie so aussahen, wie sie aussehen und nicht wie ich.Nix Elchschaufeln und Rollläden und Treppenkinn und Kartoffelknie und Flimmerspeck und Tannenbäume und Zigeuner des Körpers. Blutfettwerte eines Neugeborenen, Leberwerte eines Mönchs, Lunge eines Radrennfahrers, Durchblutung eines Tiefseetauchers! Und was es noch so alles gibt: Astronautenniere, Golferarm, Hockeymilz. Der wahre Luxus ist schlanke, sportliche, jugendliche Schönheit, und wer etwas anderes behauptet, lügt.
Wie lange ich wohl bräuchte, um wieder in Form zu kommen? Ein Jahr? Ein halbes? Oder, äußerste Disziplin und fanatische Diät vorausgesetzt, nur drei, vier Monate? Besaß ich überhaupt noch so etwas wie Sportsachen? Und wo waren die? In der hintersten Ecke des Kleiderschranks ruhten in einem zerfledderten Pappkarton Saisonkleidung und Klamotten, die ich selten oder nie trage. Mal nachgucken. Nach einigem Wühlen in mehreren Schichten lächerlicher Quatschklamotten wurde ich fündig: ein dunkelgrüner, zerknitterter Trainingsanzug der No-Name-Marke
Powersports
. Powersports, das klang nicht gut (KIK – nur nackt ist hässlicher). Den hatte ich mal getragen? Unmöglich. Irgendwo musste doch eine kurze Turnhose sein. Wühl, grabbel, schaufel. Nichts, ich würde mit dem tannengrünen Ungetüm vorliebnehmen müssen. Vielleicht war es unter psychologischen Aspekten sogar ratsam, das Training im Büßergewand zu beginnen und mir zeitgemäße Sportkleidung erst dann zuzulegen, wenn ich halbwegs
in shape
wäre. Dicke können ja eh anziehen, was sie wollen. Fehlten noch Turnschuhe: Im Keller fanden sich uralte, poröse Billigtreter aus mutmaßlich fernöstlicherFertigung, die, ihrem Zustand nach zu urteilen, eine Laufleistung von mindestens hunderttausend Kilometern auf dem Buckel hatten. Falls sie jemals über so etwas wie Dämpfung verfügt hatten, war davon nichts mehr übrig. Wie ein Auto, das auf den Felgen fährt, jeder Schritt ein Verbrechen am
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