Die Zunge Europas
Gelenkapparat.
Die kurze Strecke bis zum Stadtpark hatte eine leichte Steigung, und bereits auf halbem Weg geriet ich derart aus der Puste, dass ich mein Schneckentempo auf Amöbentempo runterfahren musste. Von weitem sah es wahrscheinlich aus, als würde ich stehen. Auf jeden Fall sah es nicht gut aus, das war mal sicher. Beim Laufstil scheidet sich die Spreu vom Weizen, der erdrückenden Mehrheit der Läufer sieht man an, wie wenig Spaß ihnen das eintönige Gerenne macht, wie sehr sie sich quälen, wie mit jedem Schritt ihre schiefe, abgenutzte, kaputte Wirbelsäule noch weiter gestaucht wird und dass sie spätestens in ein paar Wochen aufgeben werden. Sie wirken wie Pappaufsteller, denen man Gelenke eingebaut hat, bewegen ihre Arme in seltsamen Trockenfechtübungen gegen einen unsichtbaren Gegner und sacken bei jedem Schritt in einer Art Abwehr- und Schonhaltung in sich zusammen, als wollten sie einen starken Kackreiz unterdrücken.
Als ich mir den Schweiß von der Stirn wischte, fühlte es sich an, als hätte ich in einen Margarinebatzen gegriffen. Ein Schmierfilm aus gebundenem, abgestandenem Wasser, mehrfach hundertfach gesättigter Butter, Melkfett und schlechten Säften. Darunter ein paar Schichten Melancholie und
Depots
: Schlacken, Gifte, eingelagerte, nochaus der Kinderzeit stammende Medikamentenrückstände, verschluckte Münzen, eingewachsene Haare, Verschlüsse, Holz- und Knochensplitter, Knöpfe, Dichtungen, abgebrochene Kleinteile, und den Bodensatz bildeten virtuelle Schlacken. Das musste alles raus! Laufen, laufen, laufen, bis man tot zusammenbricht oder die Maschine anspringt und den Sondermüll in seine Einzelteile zerlegt. Kurzer, heißer, schneller Atem, der das dunkle, schwere, kurz vor der Gerinnung stehende Blut mit Sauerstoff anreichert. Es brodelt und zuckt und kocht und wird immer dünnflüssiger und schneller. Endlich platzt der Knoten: Wie Regen in den ausgetrockneten Flusslauf einer Wüste schießt Blut durch die verkalkten Arterien, durchspült die abgestorbenen Gefäße, zerlegt entartete Zellen, Gewebstrümmer, nicht mehr abbaubare Rückstände und pumpt sie bis an die oberste Hautschicht, wo der Klumpatsch so lange gegen die verstopften Poren pocht und hämmert und drückt, bis sich die Verschlüsse dehnen, nachgeben und schließlich mit gewaltigem Getöse aufspringen: plopp, boing, deng, oinker. Aus dem dicken Fettfilm schießen Fontänen, glühendes Magma aus Schweiß, Blut, Giften, Öl und Schmutz. Die Hitze ist unerträglich, ich schreie vor Schmerzen, sinke zu Boden. Rostbraune Pisse rinnt aus mir heraus, ich krümme mich unter Koliken. Es zerreißt mir fast den After, dann löst er sich, kommt er endlich zum Vorschein: der entsetzliche, steinharte Kotballen, der Schmutzkern, der mich seit Jahrzehnten vergiftet hat! Mir wird auf einmal entsetzlich kalt. Jemand kommt, spritzt mich mit einem Schlauch ab und wirft Decken über mich. Ich bleibe noch ein paar Minuten schlotternd liegen, dannerhebe ich mich aus dem Schmutz, ein endlich befreiter Menschenrest!
Na ja, so oder so ähnlich. Obwohl ich schwitzte und keuchte und sicher aussah wie ein Sack Schrauben auf Wanderschaft, war ich ganz begeistert von meiner Willensstärke. Tschakka, du schaffst es! Guter Schweiß, schlechter Schweiß, die subtile Dialektik des Körperwassers; klebrige Demütigung oder erotische Rutschbahn. Nach zehn Minuten hatte ich den Stadtpark erreicht, der um diese Zeit fast nur von Joggern und Idioten frequentiert wird, die ihre vierbeinigen Affen Gassi führen. Flucht in den Hund. Hier war mal wieder Vater Staat gefragt. Von Rechts wegen sollten nur Amtspersonen und Versehrte einen Hund besitzen dürfen: Blinden-, Drogen-, Schäfer-, Hirten- und Hofhunde, Funktions-, Arbeits- bzw. Diensthunde, die sich ihr Fresschen selbst verdienen. Omas, denen die Angehörigen weggestorben sind, ist in Härtefällen Hundehaltung aus humanitären Gründen ebenfalls gestattet, aber klein muss er sein (Schmetterlingshunde, leicht wie Insekten)!
Ich lief und lief und lief, ein unentdecktes Konditionswunder. Als ich das Naturbad Stadtparksee erreichte, begann sich der dumpfe, taube Schleier im Kopf etwas zu lichten. Was wohl noch so in mir steckte und nur noch nicht rausgedurft hatte? Vielleicht konnte ich Spagat und wusste es nicht. Oder ich war Aufsichtsratsvorsitzender eines Energieversorgers und hatte es schlichtweg vergessen. Oder in mir schlummerte ein
Salonlöwe
, umwölkt von der Aura weltläufiger
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