Die Zunge Europas

Wohnzimmer zusammenlegen, um Platz für noch mehr Zähler zu schaffen.
    Nach dem Duschen verlegte ich die anstehende Arbeitseinheit ins Zombiecafé und versuchte, die Texte zu rekonstruieren. «Dauerlauf ins Glück» und «Das Spaßbad   – Hassbad». Ich hatte praktisch noch alles im Kopf. Ergiebige Themen, zu denen einem viel einfällt. Anfangen konnte man damit natürlich wie immer nichts. Halde. Egal. Die Inschrift auf meinem Grabstein: «Er hat sein ganzes Leben in den Startlöchern gestanden.» Vielleicht musste ich die Latte einfach niedriger hängen, Stichwort «Flieg nicht zu hoch, mein kleiner Freund». Drehbücher schreiben, z.   B. für meine Lieblingsserie «Forsthaus Falkenau», die dieserTage in die einundsechzigste Staffel oder so geht. Glückwunsch!
    Das Forsthaus Falkenau liegt im fiktiven, unweit von Passau gelegenen Örtchen Küblach. Hauptdarsteller ist natürlich der Förster, lange Jahre verkörpert von Christian Wolff (Förster Rombach). Man kann ohne Übertreibung sagen: die Rolle seines Lebens. Aus dem Autor bekannten Gründen musste er Platz schaffen für seinen Nachfolger, Förster sowieso, gespielt vom viel zu jungen Hardy Krüger junior. Frank Elstner hätte besser gepasst. Oder Michael «Mütze» Steinbrecher, für den das ZDF angeblich schon seit Jahren verzweifelt händeringend (genau, kein Fehler: verzweifelt händeringend) nach einer
internen Lösung
sucht. Der Förster rettet kranke Tiere, dünnt den Wald aus, säubert Teiche von Algenbewuchs und bekämpft Schädlinge, wobei der größte Schädling der Mensch ist und bleibt: Nebenplot ist immer die Überführung eines Umweltsünders oder Wildcampers oder einer Bande rücksichtsloser Städter, die im Wald rauchen und/​oder Musik hören oder sich laut unterhalten und damit die Tiere vertreiben. Da kennt der Förster, ein ansonsten grundgütiger Mann, keinen Spaß. In der spannendsten Folge
ever
musste er (Förster Rombach natürlich) einen aus dem benachbarten Tschechien ausgebüxten Bären wieder einfangen, der ins reiche Bayern rübergemacht hatte. Obwohl so ein Meister Petz lustig aussieht, wenn er etwa einen Honigtopf ausschleckt oder sich putzig putzt, darf man nie vergessen, dass er zuallererst ein Raubtier ist. Nach dem Tagewerk sitzt der Förster auf der Terrasse des Forsthauses und hört sich bei einem Seidel Bier (den er nach jedem noch so kleinenSchluck wieder schließt, Verschlussbierseidel oder wie das heißt), die Sorgen und Nöte seiner Familie an, obwohl er doch selber schon genug Sorgen und Nöte hat, und als ob das immer noch nicht reichen würde, schaut er täglich im Wirtshaus vorbei und lässt sich von den fröhlichen, aber tendenziell unterbelichteten Waldarbeitern über etwaige besondere Vorkommnisse unterrichten. Beim Originalförster waren allein die Frauen das Problem: Entweder sie starben nach kurzer, schwerer Krankheit, oder sie liefen ihm davon, weil sie die Einsamkeit des Forsthauses nicht mehr ertrugen, die dummen, erlebnissüchtigen Puten. In der einzigen Werbeinsel (19.47 bis 19.52) liegt der Fokus auf medizinischen Artikeln: Tropfen gegen Harndrang, Erwachsenenwindeln, Stützstrümpfe, Treppenlifte, Cremes gegen Vergesslichkeit. Hin und wieder verirrt sich auch ein Bauspar- oder Waschmittelspot auf das von Mainzelmännchen bewohnte Reklame-Eiland, meist jedoch bleiben die Anbieter geriatrischer Produkte unter sich.
    Wer erst einmal im Drehbuchgeschäft bei den Öffentlich-Rechtlichen Fuß gefasst hat, muss sich um seine Zukunft keine Sorgen mehr machen: Jede Folge der AR D-Vorabendserie
Großstadtrevier
beispielsweise wird sechsmal ausgestrahlt, und jedes Mal gibt’s Bares, bei der ersten Wiederholung sogar das volle Honorar. Aber diese Fleischtöpfe sind heiß umkämpft, teilen will da natürlich keiner – Vetternwirtschaft.
    Langsam wurde es zu heiß, und ich ging rein, um zu zahlen. Fantomas trug ein grau-braun gesprenkeltes Schlabberhemd und eine dunkelgrüne, beulige Hose unklaren Schnitts. Karotte, Röhre, Backpflaume? Seine Teilnahmslosigkeitschien noch tiefer als sonst. Vielleicht
hatte
er ja irgendwas. Ob es eine gute Idee wäre, ihn zu meinem nächsten Geburtstag einzuladen? Als ich zu meiner Wohnung zurückging, kam es mir so vor, als hätte die Sporteinheit bereits positive Auswirkungen auf meine Haltung: straffer, gerader, entschlossener. Und größer. Sport streckt. So wie Automatikuhren eine Gangreserve haben, verfügt der Mensch über eine versteckte Größenreserve, zwei bis